Schrill und trendtechnisch top

Wo und wie Tokios Jugend nachts auflebt und ausgeht. Zentrum der Trendsetter und Modefans sind das Viertel Harajuku und das Ausgehviertel Shinjuku. Ein nächtlicher Bummel durch die Straßen von Shinjuku ist ein Bombardement für alle Sinne

VON CORINNE ULLRICH

An der U-Bahn kommen sie einem entgegen: Kids mit steil abstehenden roten Haaren und wallenden Gewändern, coole Jungs mit Tätowierungen und auf Plateauschuhen in atemberaubender Höhe, gepiercte Performance-Künstler in schrill-buntem Plastikoutfit. Jeden Sonntag treffen sie sich am Yoyogi-Park in Tokio. Für die Kids sind die Zeiten von Ikebana, Teezeremonie und Zen längst vorbei: Das moderne, junge Japan ist schrill und extrem in jeder Beziehung. Neuester Schrei: Ohne Trenchcoat und Stulpen gehen Mädels auch im Sommer nicht mehr aus dem Haus! Was natürlich auch nicht fehlen darf, ist ein schickes Hütchen.

Japanerinnen hassen es, braun zu werden. Bei den Jungs hängen die Baggy-Pants in den Kniekehlen, und die schwarzen Haare im Brit Pop Style werden mit blonden Strähnchen aufgepeppt. Zentrum der Trendsetter und Modefans ist das Viertel Harajuku. Harajuku, verkörpert, wie auch das Ausgehviertel Shinjuku, das moderne, junge Japan. Das schrill ist und trendig und bunt, das Markenklamotten huldigt und Outfits so extravagant, dass jeder Europäer vor Scham einer- und Bewunderung andererseits erblasst.

Harajuku ist für Modeliebhaber ein Paradies. Auf der „Omotesando“ findet man Luxuslabels wie Louis Vuitton oder Prada in kleinen, schicken Läden, in der Parallelstraße Takeshita Dori gibt es schillernd bunte und schräge Klamottenläden. Mittendrin liegt das Einkaufsparadies für japanische Fashion Victims: das Kaufhaus Laforet. Das Kaufhaus Laforet bietet die modernsten Designs, neuesten Trends, Materialien und Mode-Labels. In Tokio sind selbst die großen Kaufhäuser, die „Depatos“ – das Wort wurde dem amerikanischen Department Store entlehnt und japanisiert – trendtechnisch auf dem neuesten Stand: Loft heißt diese Abteilung im Seibu-Kaufhaus. Auf hier ausliegenden Handzetteln erfährt man, wer in welchem Club spielt oder auflegt. Und in den oberen Stockwerken werden Ausstellungen und anspruchsvolle Kinovorführungen veranstaltet.

Den Kontrast zum lauten, bunten und sehr westlichen Japan findet man in unmittelbarer Nähe: Nach einem Spaziergang durch den angrenzenden, weitläufigen Yoyogi Park erreicht man den schönsten Schinto-Schrein Tokios, Meiji-Jingo. Typisch für Japan: alt und neu, Ost und West, alt-erhaben und plastik-schrill liegen hier dicht nebeneinander. Der Werbeslogan „Where the past meets the future“ (Wo die Vergangenheit die Zukunft trifft) bestätigt sich bei einer Japanreise überall. In der Hauptstadt treffen die Gegensätze am härtesten und unmittelbarsten aufeinander. Hier finden sich kleine Schreine in der U-Bahn-Station oder direkt neben der coolen, hypermodernen In-Disco. Hier tragen die Mädchen tagsüber Schuluniform und stylen sich fürs abendliche Weggehen so extravagant und exaltiert, dass ihren westlichen Altersgenossinnen die Spucke wegbleiben würde. Oder sie tragen einen Kimono. Denn auch diesen sieht man noch im täglichen Stadtbild des modernen Tokio.

Ein weiteres Zentrum des Nachtlebens der japanischen Hauptstadt ist das Viertel Shinjuku. Hier sind die Menschenmassen bei Nacht genauso unübersehbar wie tagsüber: 1,5 Millionen Menschen werden täglich durch den U-Bahnhof geschleust. An der Oberfläche dröhnen Werbebotschaften und Musikclips von Videoleinwänden, auf dem Bahnhofsvorplatz trifft sich die Jugend der Stadt. Als wäre der Lärmpegel damit nicht schon bis ans Äußerste ausgereizt, heizt hier so manche Band live und open air ein – bis weit nach Mitternacht! Ein nächtlicher Bummel durch die Straßen von Shinjuku ist ein Bombardement für alle Sinne: Die bunt blinkenden Neonlichter, der unglaubliche Lärm der kleinen Stahlkügelchen aus den Pachinko-Spielhallen, die Songfetzen der Bars und Clubs, das Stimmgewirr der unzähligen Menschen, die verwirrend-fremden Gerüche der kleinen Straßenküchen. Skateboarder jagen über die Treppen, Pärchen flanieren, eine Gruppe Jungen stützt ihren völlig betrunkenen Freund auf dem Gang durch die Stadt, Schlangen warten vor den zahlreichen Karaoke-Clubs.

Karaoke ist in Japan kein Trend, sondern vielmehr ein Way-of-life und demzufolge immer noch der unumstrittene Freizeithit. Schade allerdings, dass Japaner sich nicht in aller Öffentlichkeit zum Narren machen, sondern mit der Clique, den Geschäftspartnern oder Arbeitskollegen einen Karaoke-Raum mieten und dort die Privatparty steigen lassen.

Shinjuku und Shibuya sind die beliebtesten Stadtviertel der Tokioer Jugend, Freitag- und Samstagnacht sieht man hier kein altes Gesicht auf der Straße. Das noch in einigen Reiseführern gepriesene Diskoviertel Roppongi dagegen ist heruntergekommener US-Abklatsch, der höchstens Touristen zum Ausgehen und Aufgabeln japanischer Mädchen reizt. Nachtleben in Tokio ist unproblematisch, die japanische Metropole gilt als sicherste Stadt der Welt. Es gibt keine Straße, in die man sich nicht wagen dürfte, keine Randale, kein Raub, keine Anpöbeleien – auch nicht für allein reisende Frauen. Wenn Japaner nachts ausgehen, wollen sie Spaß und keinen Streit. Zwar trinken sie gern und ausgiebig – nirgendwo sonst sieht man so viele betrunkene Menschen auf so engem Raum, torkelnd von den Freunden weitergezogen, oder, auch dazu nicht mehr fähig, komatös in einem Hauseingang oder Rinnstein liegend – ein Grund für Aggressivität aber ist das nicht.

Und so besteht das einziges Problem für Nachtschwärmer am Ende der Nacht: Um ein Uhr fährt die letzte U-Bahn, und Taxis sind teuer. Wer gut in Form ist, macht bis fünf Uhr morgens durch, dann starten die Bahnen wieder. Die meisten Clubs haben lange geöffnet, Cafés, Snack- und Sushibars erleichtern das nächtliche Überleben. Die beste Grundlage für eine lange Nacht bieten die kleinen Straßenküchen, die vom Auto oder einem kleinen Wägelchen aus betrieben werden und Fischspezialitäten oder heiße Nudelsuppen anbieten. Hier kann bedenkenlos und darüber hinaus billig probiert werden, Japans Hygiene ist sprichwörtlich!

Wer dagegen wissen will, wie das alte Edo, wie Tokio früher hieß, aussah, besucht das Hitamachi-Museum am Shinobazu-Teich: Häuser, Inneneinrichtungen und eine kleine Straße mit Läden wurden hier nachgebaut. Vergleicht man diese mit der pulsierenden Metropole von heute, ist es kaum vorstellbar, dass Anfang diesen Jahrhunderts noch viele Japaner so lebten!