Preußen rabiat

Warum man so gern von üblen Taten aus vergangenen Zeiten liest: Im historischen Berlin situierte Kriminalromane haben derzeit Hochkonjunktur. Ein Streifzug durch aktuelle Veröffentlichungen

Alle können für das, was sie getan haben, gute Gründe nennen

VON CARSTEN WÜRMANN

Wie mordete man früher hierzulande? Wenngleich die meisten wohl gerade das von ihren Großeltern lieber nicht so genau wissen wollen, werden kriminalliterarische Antworten auf diese Frage zunehmend populärer. Historische Kriminalromane haben Konjunktur, 30 Jahre nach Umberto Ecos Weltbestseller „Der Name der Rose“ ist die Aufklärung von Verbrechen in vergangenen Zeiten ein erfolgreicher Bestandteil des Krimigenres geworden. Auch das historische Berlin erweist sich hier als gesuchter Verbrechensschauplatz, wie ein Blick auf die Krimi-Erscheinungen der letzten Jahre zeigt. Ermittelt wird im Berlin des Großen Friedrichs, während des Ersten Weltkriegs, in der Inflation und – international besonders erfolgreich – in der Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschlands sowie in dem von den vier Siegermächten verwalteten Besatzungsgebiet. Warum aber lesen wir so gern von üblen Taten im historischen Ambiente? Ist es der Wunsch, sich gut zu unterhalten, und nebenher noch etwas für die Bildung zu tun?

Was immer den Reiz für den Einzelnen ausmacht, der Blick zurück stellt die Autoren vor ganz eigene Herausforderungen, denn die Darstellungskonvention des Kriminalromans verlangt, dass das beschriebene Geschehen zwar unwahrscheinlich, aber doch möglich sein soll. Wenn sie sich also einen vergangenen Zeitabschnitt aussuchen und ihn mit historischen und fiktionalen Figuren besetzen, dann dürfen sie dabei nicht allzu grob gegen die Chronologie und die zeitgenössischen Umstände verstoßen. Darüber hinaus erscheint es für den Krimi weniger bedeutsam, ob die Historie dabei nur als Kulisse dient, um eine Story aufzupeppen – oder ob die Autoren Fachbücher wälzten, um so die beschriebene Zeit detailliert zu rekonstruieren.

Die mittlerweile sechs „Preußen-Krimis“ des promovierten Literaturwissenschaftlers Tom Wolf um seinen Detektiv Honoré Langustier führen die Leser in die Regierungszeit Friedrichs II. Der Zweite Hofküchenmeister im Dienste seiner Majestät macht bei der Aufklärung von Verbrechen vor keiner Ständeschranke Halt und erweist sich so als ideale Gestalt, um möglichst breit zeitgenössische Umstände zu schildern. Dabei spielt Wolf mit offenen Karten: Im vorangehenden Verzeichnis werden die historischen Personen von den fiktiven Hauptakteuren unterschieden aufgeführt, eine allzu wohlfeile Gleichsetzung mit dem Hier und Jetzt unterläuft Wolf außerdem mit einem historisierenden Sprach- und Erzählduktus. Friedrich II. etwa spricht sein beschränktes, den überlieferten Zeugnissen nachempfundenes Deutsch. Wolf bietet unterhaltsame Geschichtslektionen, bei denen en passant allzu positive Preußenlegenden korrigiert werden. So wird Friedrich der Große beispielsweise im Roman „Schwefelgelb“ als der Münzfälscher großen Stils präsentiert, der er nachweislich gewesen ist, und die preußische Toleranz gegenüber ihren jüdischen Bewohnern auf ihre finanziellen Gründe zurückgeführt.

Regina Stürickow lässt in ihrem Roman „Habgier“ den jungen Zeitungsreporter Max Kaminski im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges während eines Praktikums bei der Kriminalpolizei in einem authentischen Fall ermitteln: Eine brutal verstümmelte Leiche wird in einem Gepäckkorb am Schlesischen Bahnhof gefunden. Ihr Held aus großbürgerlicher jüdischer Familie ist freilich, wie Stürickow in ihrer Nachbemerkung schreibt, erfunden – historisch ist dagegen der legendäre Kommissar der Berliner Kriminalpolizei Ernst Gennat, unter seiner väterlichen Führung findet Kaminski die Täter. Dieser in seinem Plot etwas zu vorhersehbare Krimi bietet genau wie der Roman „Schützenfest“ von Gabriele Stave genau recherchierte Umstände.

Stave führt die Leser mitten in das Jahr 1923, Höhepunkt der Inflation. In einem kleinen Dorf im Brandenburgischen wird während des Schützenfestes ein Pianist erschossen. Kriminalrat Eugen Ruben ermittelt in einem überbordend ausgemalten Zeitgemälde, bevölkert von zahlreichen zeitgenössischen Typen, von der jungen Angestellten bis zum republikfeindlichen Adeligen. Über die Begeisterung für Zeit- und Lokalkolorit gerät ihr allerdings die Krimihandlung aus dem Auge. Stürickow wie Stave nehmen die Kriminalfälle zum Anlass, Geschichte anschaulich zu machen. Dennoch geraten Daten und Fakten manchmal etwas holzschnittartig. Um das Potenzial von Kriminalfall und großer Geschichte wirklich auszureizen, sind die gewählten Zeitabschnitte – Heimatfront, Erster Weltkrieg und Inflation – doch nicht spektakulär genug.

Nicht nur spannend, sondern geradezu brisant wird im Kriminalroman vermittelte Geschichte, wenn sie historische Ereignisse berührt, die eine Gesellschaft heute noch umtreiben. Mit erhöhter Aufmerksamkeit können daher die Autoren rechnen, die ihre Krimis im nationalsozialistischen Deutschland ansiedeln, das zwar im höchsten Maße kriminell, aber angesichts des Ausmaßes an Verbrechen kaum als schickliches Sujet für literarische Unterhaltung geeignet scheint. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass es zunächst mit Philip Kerr ein britischer Autor war, der in seiner zwischen 1989 und 1991 erschienenen Roman-Trilogie „Berlin Noir“ einem veritablen hard-boiled Detektiv ein Büro am Alexanderplatz einrichtete und ihm à la Philip Marlowe mit dem rechten Maß an verbaler und körperlicher Schlagfertigkeit auf Tätersuche im Dritten Reich schickte. Aus der Perspektive seines Bernhard Gunthers erleben wir einen NS-Alltag zwischen Olympiade und „Reichskristallnacht“. Bei seinen Ermittlungen gerät er genau wie seine amerikanischen Hard-boiled-Kollegen in ein Netz von Intrigen, nur dass es sich hierbei um die führenden Nazis handelt, die – und dies entspricht den Quellen – mit allen Mitteln um Macht ringen. Es war neben den exzellent gemachten und historisch versierten Krimis sicher auch die Provokation dieses Anachronismus – der individualistische, integre Held in der totalitären NS-Diktatur –, die ihren Erfolg begründete: Gerade erscheint bei Rowohlt eine Erfolgstaschenbuchausgabe.

Mittlerweile versuchen sich aber auch deutsche Autoren erfolgreich an diesem Thema. Just als Taschenbuch erschienen ist der mit dem Glauser-Krimi-Preis ausgezeichnete Roman „Wer übrig bleibt, hat recht“ der beiden Kulturhistoriker Richard Birkefeld und Göran Hachmeister. Im Jahr 1944 entflieht Ruprecht Haas aus einem Konzentrationslager. Wegen einer defätistischen Äußerung hatte man ihn verurteilt, mittlerweile sind Frau und Kind bei Bombenangriffen gefallen, und er kennt nur noch ein Ziel: sich an seinen Denunzianten zu rächen. Der SS-Offizier und ehemalige Kripobeamte Kalterer, von der Ostfront zur Rekonvaleszenz zurück ins Reich geschickt, wird mit der Aufklärung des Mordes an einem hochrangigen Parteigenossen in Berlin beauftragt, der Haas’ Rachezug zum Opfer fiel. Kalterer sieht seine Chance. An mehr als einem Kriegsverbrechen beteiligt, hofft er, sich mit diesem Auftrag in die Nachkriegszeit hinüberzuretten.

Während die Rote Armee immer näher rückt und Berlin langsam in Trümmern versinkt, enthüllen sich am Fall des Rubert Haas die komplexen Zusammenhänge von Gewinnstreben, Nazi- und Mitläufertum, in denen das Unrecht zwar offensichtlich, die Schuldfragen aber kaum zu klären sind. Die Aufklärung des einen Verbrechens am Ende verweist nur auf die versäumte weiterer. Hachmeister und Birkefeld gelingt es, das komplexe Bild, das die historischen Quellen über Berlin in den letzten Monaten des Krieges belegen, mit diesem Plot in einem spannenden Roman zu verweben. So könnte es gewesen sein.

Der 1930 geborene Pierre Frei wuchs in dem Stadtviertel auf, das neben der U-Bahn-Station liegt, die seinem Roman den Titel gibt: Onkel Toms Hütte, Berlin. Hier werden im Spätsommer 1945 mehrere Frauen brutal ermordet: Alle sind blond und blauäugig. Der deutsche Inspektor Dietrich wird mit dem Fall betraut und stellt mit Hilfe der amerikanischen Besatzer schließlich den Serientäter. Während Dietrich ermittelt, bekommen wir vor allem aus der Perspektive seines 15-jährigen Sohnes Ben Einblicke in die Alltagswelt des Nachkriegsberlins. Doch dabei belässt es Frei nicht. Die Biografien der ermordeten Frauen nimmt er zum Anlass, um in Rückblenden verschiedene Lebenswege zu schildern, und scheut dabei vor kaum einem Extrem zurück. Es treten auf: die edle Aristokratin im diplomatischen Dienst, die zur Rettung ihres Bruders aus dem fernen Barcelona eingeflogen kommt, die Krankenschwester, die ihr am Down-Syndrom leidendes Kind aus der Anstalt und vor der Vergasung rettet, dann noch die Hure mit dem großen Herzen usw. usf. Die Schilderungen von NS-Verbrechen, die Frei in keiner Weise ausspart, verkommen vor diesem Hintergrund zum schrillen Gegenpart dieser klischeehaften Lichtgestalten.

Dabei liegt es gar nicht an den populärkulturellen Ingredienzen. Joseph Kanon verzichtet in seinem Roman „In den Ruinen von Berlin“ weder auf Liebe noch auf sex and crime und nicht einmal auf das Klischee vom tumben russischen Soldaten. Und trotzdem vermengt er all die Zutaten zu einem spannenden „Pageturner“, der die Frage nach Schuld und Verantwortung stellt und, auch wenn er sie in Extremen zuspitzt, differenzierte Ansätze zu ihrer Beantwortung liefert. Während im Sommer 1945 im Schloss Cecilienhof die Siegermächte über die Zukunft Deutschlands konferieren, findet der amerikanische Reporter Jake Geismar in der Havel die Leiche eines amerikanischen Offiziers. Er, der bereits bis 1941 als Korrespondent in Berlin gelebt hatte, macht sich auf die Suche nach den Hintergründen. In der Trümmerlandschaft Berlin, über der ein ständiger Geruch von Verwesung hängt, findet er nicht nur seine Geliebte wieder, sondern mit der Hilfe des Expolizisten Gunther Behn auch die Erklärung für den Mord. Während die Alliierten ihre gemeinsame Parade vor dem Brandenburger Tor vorbereiteten, ringen sie hinter den Kulissen um das militärische Know-how der besiegten Deutschen. Geismar muss erfahren: Alle können für das, was sie getan haben, gute Gründe nennen: Der begnadete Mathematiker, der für den Waffenbau Flugbahnen und den optimalen Kalorienbedarf für die optimale Ausbeutung von KZ-Häftlinge errechnete, die Jüdin, die, um das Leben ihrer Nächsten zu retten, andere Juden an die Gestapo auslieferte. In diesem Roman werden „Persilscheine“ gegen Geld und nach Opportunität vergeben, am Ende stellt Geismar die Gerechtigkeit nur insofern wieder her, als fürs Happy End auch zwei, die es verdienen, in die bessere Welt nach Übersee fliegen dürfen. Im Flugzeug sitzt aber auch der belastete Wissenschaftler, der aber nicht angeklagt, sondern den Amerikanern beim Raketenbau helfen wird.

Die „Preußen-Krimis“ von Tom Wolf sowie „Schützenfest“ von Gabriele Stave und „Habgier“ von Regina Stürickow erschienen im be.bra-Verlag, Berlin, je 9,90 €; Pierre Frei: „Onkel Toms Hütte“, Blessing Verlag, München 2003, 22,90 €; Joseph Kanon: „In den Ruinen von Berlin“. Aus dem Amerikanischen v. Ulrike Wasel u. Klaus Timmermann. Blessing, München 2002, als Taschenbuch bei Goldmann 9,90 €; Richard Birkefeld u. Göran Hachmeister: „Wer übrig bleibt, hat recht“. Eichborn, Frankfurt 2002, als Taschenbuch bei DTV 9,90 €; Philip Kerr: „Die Berlin-Trilogie: Feuer in Berlin. Im Sog der dunklen Mächte. Alte Freunde – neue Feinde. Bernhard Gunther ermittelt“. Roman. Deutsch v. Hans J. Schütz. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 2004, 10 €