Armer Nackter

Bedeutungsverschiebungen bis zum Sinnverlust: Mit dem Musical „Kamov. Ein Todeslauf“ eröffnete die kroatische Theatergruppe ZeKaem das Laokoon Sommerfestival auf Kampnagel

von Katrin Jäger

Das ist Gott“ stammelt Janko Poliæ Komov (Jasmin Telaloviæ), kniet nieder und lässt sich mit roter Flüssigkeit aus einem Schnapsglas taufen – von dem Angebeteten, der soeben auf einem umgekippten Pappklavier auf die Bühne geritten kam. Der outet sich als der Lustmolch Dionysos (Filip Nola) und zieht den nackten Janko in seinen Bann.

Mit ihrem Musical „Kamov. Ein Todeslauf“ um den unverstandenen kroatischen Dichter Janko Kamov eröffnete das Junge Theater Zagreb ZeKaeM das Laokoon Sommerfestival auf Kampnagel. Knappe drei Stunden lässt der Regisseur Branko Brezovec seinen Protagonisten durch den Raum hetzen. Hin und her gerissen zwischen guter Kinderstube, christlichem Klostermief, einer heruntergekommenen Gauklertruppe, den orgiastischen Partys im Bordell und der Zielscheibe seiner Leidenschaft: Kitty (Suzana Brezovec).

Auch mit ihr vögelt Janko, wie mit den Bordelldamen. Doch darüber hinaus schenkt er ihr sein Herz, auch wenn es gar nicht danach aussieht, wenn er die Geliebte im Wasserbecken entjungfert und sie mit blutrotem Pavianpopo zurücklässt. Doch der Akt beflügelt des Dichters Geist, er „verletzt sein Papier mit der Feder“ für Kitty, sprich: Er widmet ihr seine Verse.

Dann fallen die Ungarn ein, so wie es war, als der echte Janko Kamov lebte, Ende des 19. Jahrhunderts. Da träumte der Regent Khuen Héderváry von Großungarn und versuchte sich das unabhängige Kroatien einzuverleiben. Regisseur Brezovec kennzeichnet seinen Héderváry (Marica Vidusiæ) und dessen Mannen mit grünen Turbanen. Das gibt dem Publikum eine Orientierung. Denn wer nun gerade mit wem vögelt, wer wen schlägt, wer sich unter die Marmortische gleiten lässt und durch das Loch im Boden in den Raum unter die Bühne verschwindet, das ist ansonsten schwer zu unterscheiden. Zumal einige SchauspielerInnen in Doppelrollen auftauchen und die deutsche Übersetzung der kroatischen Texte auf der Tafel, die an der Decke hängt, kaum lesbar, weil schlecht ausgeleuchtet sind.

Dazu zitieren die Schauspieler mit überwiegend schlechten Stimmen kroatische Schlager der 60er und 70er Jahre: grotesk übertrieben, meist als chorales Remake. So mixt die Inszenierung Genres, nicht nur musikalisch. Der Anhänger Großungarns, Pater Bernard (Daniel Ljuboja), bricht das Brot mit seinen Klosterbrüdern, dasselbe tut der Sozialistenchef mit seinen Partisanen vor dem Kampf gegen die Ungarn. Der Brotlaib wechselt also symbolisch die Fronten. Ebenso wie das Märtyertum, anfangs mit dem steinernen Jesus am Kreuz hinten an der Marmorwand klar der christlichen Kirche zugeordnet. Doch dann lässt Janko sich im Bordell lustvoll quälen, und es wird klar, dass das Leid Christi auch sexuell gedeutet werden kann.

Die Inszenierung arbeitet zuhauf mit derartigen derrida‘schen Bedeutungsverschiebungen: Da fallen Namen wie Hiob und Noah, der antike Fährmann Charon taucht kurz auf, um Jankos Vater über den Styx ins Totenreich zu bringen, banale Schlagertexte mischen sich mit denen Kamovs und verflüssigen die Grenze zwischen Pop und Hochkultur.

Die Gefahr bei so viel Bedeutungsverschiebung besteht darin, in die Belanglosigkeit abzugleiten. Das ist bei „Kamov. Ein Todeslauf“ der Fall. Darüber hinaus versucht die Inszenierung das Publikum mit dem zu schocken, was zu Jankos Lebzeiten noch undenkbar war: Sex auf der Bühne. Doch das reißt heute keinen mehr vom Hocker. Provokation läge heutzutage vielleicht eher in der Ruhe, Janko Kamovs Todeslauf dagegen gerät zum Karneval: zu viel Verkleidung, zu wenig inhärente Sinnstiftung.

Da hilft nur, sich aufs Visuelle zu konzentrieren. Das Bühnenbild von Želijko Zorica verwandelt sich fast unmerklich von der Kapelle ins Bordell, ins Wohnzimmer, dann wieder in den Marktplatz. Und am Ende tut sich der Boden auf, und ein weißes Schiff fährt in den Hafen ein.

Keine weitere Vorstellung; Laokoon-Festival: bis 29.8, Kampnagel