Rakete am gelben Gummizug

Beliebt sind Schießpulver und Wasser als formende Kräfte: Roman Signer zeigt seine Aktions-Skulpturen in der Sammlung Hauser und Wirth in Sankt Gallen. Im Kopf wird mitexperimentiert

von MATTHIAS BUSCHLE

Manchmal, selten, aber immer wieder stößt man auf Kunst und denkt sich – so geht das nicht! So einfach und ehrlich, so nackt und verletzlich die Welt zeigen – das kann man doch nicht machen. Einfach so, direkt und ohne Umwege existenzielle Probleme bearbeiten – wie etwa die Kunst von Roman Signer.

Die Skulpturen des Schweizers Roman Signer sind Arrangements von ganz alltäglichen Gegenständen, die in einer Aktion nicht vom ihm, sondern von einer physikalischen Kraft und einem guten Schuss Schicksal gemacht werden. Signer nennt sie „skulpturale Ereignisse“. Zum Beispiel „21 Fässer“: Einundzwanzig blaue, mit Wasser gefüllte Industriefässer sind zu einem dreieckigen Turm aufeinander gestapelt. Vor den Fässern ist eine flache, zirka 11 Meter lange und fast 8 Meter breite schwarze Wanne aus Teichfolie. Die Fässer werden angeschossen, das Wasser rinnt aus. Kurz entsteht ein Brunnen. Die Wanne füllt sich, mit dem Wasserspiegel verdoppelt sich die Zahl der Fässer, optisch zumindest: Der Raum hat eine neue Dimension.

Signers Kunst sieht einfach aus. Einfach ist ihr Material: Koffer, Fässer, Trichter, Treppen, Kajaks, Eimer, Kisten, Feuerwerksraketen, Gummibänder, Ventilatoren, Ballone. Einfach auch die Farben: Silber, Rot, Blau, Gelb, Weiß. Es sind die Farben, die die Gegenstände sowieso haben. Und einfach, fast schon lapidar, sind die Werktitel: „Raketenkreis“, „Treppe“, „11 Helikopter“, „Hemd“, „Fahrrad mit Farbe“, interpretiert wird hier nicht. Im Gegensatz zu dieser Einfachheit stehen die spektakulären Aktionen, in denen die Skulpturen entstehen, plötzlich ausbrechende physikalische Kräfte geben ihnen den letzten Schliff. Diese Spannung ist reizvoll: So außergewöhnlich die eingesetzten Aktionsmedien sind, so schlicht ist meist die Wirkung.

Zum Beispiel: Eine rote Rakete mit schwarzem Hütchen hat einen Schwanz aus mindestens 50 Meter langem, gelbem Gummiband. Die Rakete wird gezündet. Sie fliegt hoch, nimmt das Band mit, zeichnet so eine gelbe Linie in die Luft. Dann wird sie vom Gummiband wieder zurückgezogen.

In der ehemaligen Lokremise des Sankt Gallener Bahnhofs ist jetzt die Sammlung Hauser und Wirth untergebracht. Das runde Gebäude bietet den Rahmen für eine umfassende Werkschau Signers. Die Ausstellung spannt einen Bogen von den Arbeiten aus den 70er-Jahren bis heute. Eigens für diesen Ort wurde der „Turm“ im Innenhof geschaffen, knapp fünf Meter hoch, aus Weichholz gezimmert. Vorne, oben, in etwa 4 Meter Höhe, ist eine Türe angebracht. In regelmäßigen Abständen geht im Turm dreimal eine Schreckschussanlage los, die sonst Vögel im Weinberg vertreibt. Durch den Druck öffnet sich die Tür und wird sofort von einem Gummiband mit einem großen Knall wieder zugeschlagen: ein überdimensionierte Kuckucksuhr.

Signer arbeitet sowohl als Zeichner, als Bildhauer und auch als Filmer. Zwischen den drei Genres besteht inhaltlich ein enger Zusammenhang: Es sind Versuchsanordnungen von Zustandsveränderung. Immer einfach, sachlich und deshalb fantasieanregend. Im Kopf wird mitexperimentiert.

In den Filmen dominiert die stehende Kamera, es sind Außenaufnahmen, gedreht in einer unspektakulären Landschaft: gemächliche Flüsse, grüne Wiesen, gekieste Waldwege. In den Filmen werden Aktionen gezeigt, die nur für die Kamera ausgeführt wurden. Die Ausstellung bietet die Gelegenheit, sämtliche, teilweise sehr kurzen Super-8-Filme Signers anzusehen, zusammengeschnitten zu einem Drei-Stunden-Programm.

Auch in den Filmen bleibt Signer Bildhauer, zum Beispiel in „Schusslinie“: Zwei Monitore stehen sich etwa 5 Meter voneinander entfernt gegenüber, Bildschirm an Bildschirm. Auf dem einen, auf Monitor 1, sehen wir einen roten Ballon, der vor einem Waldrand schwebt. Auf Monitor 2 sehen wir einen Mann mit einer Flinte. Er zielt, Schuss: Die Kugel fliegt – gedacht natürlich – durch den Ausstellungsraum und, zack, der Ballon auf Monitor 1 zerplatzt.

So spektakulär der Akt ihrer Entstehung ist, von Anfang an sind die Skulpturen als solche gedacht und auch entworfen: Die Beziehung der Objekte im Raum, ihre Bewegung, ihre Proportionen und ihre Wirkungen sind bildhauerische Probleme. Signer nutzt physikalische Kräfte, um seine Kunst zu vollenden. Er erweitert die Skulpturen mit der Dimension der Zeit. Die Arbeiten sind dabei herrlich einfach, und man möchte gar nicht mehr aufhören, sie nachzuerzählen.

Daher noch schnell eine Aktion, die in der Sankt Gallener Ausstellung stattfand: An der zirka 5 Meter hohen Decke hängen, zu einem Quadrat angeordnet, zwanzig silberne Eimer. Diese sind mit Wasser gefüllt. Signer geht in die Mitte des Raumes, gibt ein Signal. Eine Explosion wird ausgelöst, die Eimer fallen runter – gleichzeitig. Während des Falls schwappt schon Wasser aus den Eimern, zwanzig Wassersäulen entstehen. Mit einem großen Krachen schlagen die Eimer, immer noch in Formation, auf den Boden, zwanzig Wasserfontänen bilden sich. In der Mitte steht jetzt Signer. Um ihn herum Wasserlachen und zerbeulte Eimer. Signer geht. So einfach ist das, nichts Besonderes – aber: anschauen.

Bis zum 12. Oktober, Sammlung Hauser und Wirth, Sankt Gallen,www.lokremise.ch