Tausendfach vereinnahmter Gott

Ratten im Zeitungsarchiv: Das libanesische Maqamat Dance Theater beleuchtet in dem Tanzstück „Guerre au Balcon“, das auf Kampnagel Hamburg Europapremiere hatte, das Weiterleben nach dem Bürgerkrieg im Libanon

Sie rennen über die Zeitungsbündel, zerfleddern das Papier in Windeseile, nichts ist vor ihnen sicher. Zwischendurch reiben sie die Vorderpfoten aneinander, putzen rasch das Gesicht: Die Ratten sind in ein Beiruter Zeitungsarchiv eingedrungen.

Die Ratten, das sind die neun PerformerInnen vom libanesischen Maqamat Dance Theater. Dem Wesen nach jedenfalls, denn die TänzerInnen deuten das Nagerverhalten nur an, bringen so die Zuschauerphantasie zum Schwingen, jeder produziert seinen eigenen Film und findet so zum Kern des Stücks: der Auseinandersetzung mit Krieg, dessen Brutalität, Sinnlosigkeit, Absurdität.

Die Europapremiere des Tanzstücks Guerre au Balcon auf Kampnagel brachte das alles auf den Punkt. Der junge Regisseur Omar Rajeh verflicht darin Bewegung, Text und Musik zu einer sinfonischen und kritischen Aufarbeitung des libanesischen Bürgerkriegs. „Ich bin ein eifriger Gott“, dröhnt der alttestamentarische Text in die Trostlosigkeit, donnernd unterstrichen von Felix Mendelssohn Bartholdys Elias-Oratorium. Jeder will diesen „eifrigen Gott“ für sich, für seine Glaubensrichtung und gegen den andersgläubigen Nachbarn vereinnahmen. Die mit Lumpen bekleideten Rattenmenschen knallen einander ab, fallen tot um.

Bis zum Exzess geht das so, mit fesselnder Bühnenpräsenz, immer in Kontakt, untereinander, mit der Musik, mit dem Publikum. Da liefern sich zwei Rattenmenschen einen Comic-artigen Zweikampf, kein Schlag trifft wirklich, wie im Film vertonen sie ihre Hiebe mit ihren eigenen Stimmen. Das ist lustig, das ist Show. Satirisch stilisiert, doch außerdem klare Kriegskritik. Denn da flimmert plötzlich hinten ein Stück Dokumentarfilm über die Leinwand: ein weinendes Kind, Trümmer, verwüstete Straßen, Flugzeuge, die Bomben abwerfen. Da knallt das Kriegsspiel auf blutige Realität, man schämt sich auf einmal, als Kind Winnetou gespielt zu haben.

Die mediale Verniedlichung von Mord, Vergewaltigung und Folter ist ein Hauptaspekt in Rajehs Inszenierung, getragen von der Figur des Medienmanns. Der fährt mit seinem Rollstuhl über den Kriegsschauplatz, legt seine Finger zu einem Guckkasten zusammen, sucht so in rattenartiger Geschwindigkeit medienwirksame Bildausschnitte des Krieges. Schwafelt nostalgisch über die „goldenen 60-er Jahre“, wirft die Namen von Theatergrößen von Brecht bis Artaud genau so sinnlos in den Bühnenraum, wie die Flugzeuge ihre Bomben auf die Stadt.

Der Inszenierung gelingt die Mischung von Unterhaltung und Kritik bestens. Ohne in Klischees abzurutschen, ohne moralischen Zeigefinger, dicht, tempo- und einfallsreich. Katrin Jäger

Weitere Vorstellung: 21.8., 20.30 Uhr, Kampnagel Hamburg