Istanbul brennt

Kunst in Istanbul: Das ist der Alltag als Happening, das ist der Gebetsruf neben dem Chill-out. In ihrem viertausendsten Lebensjahr wird die Stadt von ihren jungen Bewohnern neu erschaffen

Minirock neben Schleier, Rock neben Mystik, Arabesque neben Mozart

von DILEK ZAPCIOGLU

Özge, Günes und Secil sind drei selbstbewusste Künstlerinnen um die dreißig. Sie machen das, was Istanbul einem zeitgenössischen Künstler geradezu aufdrängt: Den Alltag zum Happening umfunktionieren. Sie nennen es natürlich anders. Auf der Istanbuler Biennale im letzten Herbst gestalteten sie ein „Social Structure in Process“, realisiert von einer Familie aus Anatolien, die auf dem Gelände eines der Biennale-Gebäudes ein Gecekondu baute. Das ist nichts anderes als ein illegal und über Nacht erbautes Häuschen am Rande der Metropole, also das gewöhnliche Dach über dem Kopf von etwa sechs Millionen Zuwanderern. Die Künstlerinnen wollten darauf hinweisen, dass Istanbul eine Stadt ist, in der viel fehlt und ihre Bewohner nur durch Eigeninitiative überleben. Die Produkte der Performance wurden später im Oda Projesi, dem „Kammerprojekt“, ausgestellt.

Das Kammerprojekt der drei Künstlerinnen unweit des Galata-Turms erinnert an die wild entstandenen Ateliers in der Oranienburger Straße Berlins nach dem Mauerfall. In einem kleinen Innenhof zwischen großen, seit Jahrzehnten nicht renovierten Altbauten inmitten Istanbuls besteht das Projekt aus einer kleinen, bunt bemalten und eingerichteten Erdgeschosswohnung, deren Türen und Fenster zum Hof stets offen stehen. Wenn hier eine Lesung oder Diskussion stattfindet, wird sie durch Lautsprecher ins Mahalle, das Viertel, übertragen. Die türkischen, armenischen oder griechischen Nachbarn nehmen Anteil und teil an der künstlerischen Arbeit; Kinder klatschen darüber, was die „doofe bunte Tante“ anhat, die gerade Gedichte vorträgt; eine Frau hat es sich mit ihrem Strickzeug auf dem Balkon gegenüber bequem gemacht und lauscht Hölderlin. Heute etwas leiser als sonst, denn oben wird gerade für ein verstorbenes Familienmitglied zum vierzigsten Todestag aus dem Koran gelesen. Was lesen angeht, bietet das Künstlerprojekt auch Alternatives, zum Beispiel ein Lexikon der Mischsprache aus Türkisch, Kurdisch, Armenisch und Griechisch, das auf den Straßen dieses Stadtteils gesprochen wird: eine der „unfinished everyday life performances being shaped by the relationships between people and spaces“ in Istanbul. Bis zur Biennale in Venedig hat es das Kammerprojekt gebracht – Kunst, die Istanbul nicht besser stehen könnte.

Istanbul und Kultur? Wo soll man anfangen. Vielleicht mit Abwesenheitslisten. Nicht vorhanden ist Geld, dafür gibt es Eigeninitiative, Kreativität, Energie, Witz im Überfluss. Methusalem-Komplott? Nie gehört in einer Stadt, deren Straßen voll sind mit jungen Menschen zwischen fünfzehn und fünfunddreißig. Es gibt hier pralles Leben. Minirock neben Schleier, Rock neben Mystik, Arabesque neben Mozart, Jethro Tull neben Tarkan, Gebetsruf neben Chill-out: spielerische Anläufe gegen die Selffulfilling Prophecies selbst ernannter Sozialpropheten. In ihrem viertausendsten Lebensjahr wird Istanbul von ihren jungen Bewohnern geradezu neu erschaffen.

Das ist es auch, was den Hamburger Türken Fatih Akin so fasziniert, wenn er in diesen Tagen seinen Dokumentarfilm „Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul“ dreht. Da geht Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten, die vor ein paar Monaten auf eine Organisation des Goethe-Instituts hin in Istanbul Konzerte gaben, auf eine musikalische Entdeckungsreise am Bosporus. Man darf mitschauen und mithören. „Istanbul brennt“, sagt Fatih Akin, „sie ist die ultimative Megacity Europas, die man einfach hautnah erleben muss.“ Akin erzählt von den vielen Künstlern, DJs und Musikern, die in diesen Tagen aus aller Welt nach Istanbul strömen, um sich von der neuen Ostwest-Kultur inspirieren zu lassen.

Sufi-Musik auf dem Mischpult mit E-Klängen zu einer neuen Symbiose verarbeiten? Mercan Dede nennt sich heute der berühmte türkische Ex-DJ Arkin Allen, der mit seiner extremen Punk-Frisur nicht gerade wie ein Derwisch aussieht. Viele haben für seinen Hang zur Mystik nur ein spöttisches Lächeln übrig. Aber wenn er im Open-Air-Theater die mystische Flöte Ney in die Hand nimmt und im Hintergrund zwei drehende Tänzer auffährt, schafft er es, den Geist in höhere Sphären gleiten zu lassen. Oder Baba Zula – auch wieder so ein unübersetzbarer Name, baba bedeutet nicht nur Papa, sondern im Metropolen-Slang alles, was gut ist, Gewicht hat, zula ist einfach das Versteck für Drogen, zusammen klingt das, egal was es bedeutet, ungeheuer poetisch, total nachvollziehbar und gerade richtig für die Musik, die Levent, Murat und Emre, seit neuestem mit der Sängerin Oya, machen. Türkische Volksklänge mit elektronischen Instrumenten mixen. Mit so unterschiedlichen Musikern wie dem Klarinette-Virtuosen und Roma Selim Sesler und dem Saxofonisten Ralph Carney aus San Francisco zusammen Aufnahmen machen. Ihre letzte CD heißt Ruhani Oyun Havalari, „geistige Tanzmusik“ oder wie sie sie selbst nennen: „Psychedelic Belly Dance“.

Istanbuler haben ihre Vorlieben: Blues zum Beispiel, erinnert an den Arabesque-Sound Orhan Gencebays, keine Herz-Schmerz-Tiraden, sondern toughes Zeug, wie HipHop, neuerdings nicht mehr ausschließlich von Deutschtürken vorgetragen. Ceza“ nennt sich der gut aussehende junge Istanbuler, „Strafe“ eben, er entstammt der alternativen Szene der asiatischen Seite Istanbuls, ein Kind der verrauchten Musikkneipen, unterirdischen Tattoo-Ateliers und linken Buchläden des Rive-Droite-Istanbuls. Bestrafen tut er mit seinen Texten natürlich das Kleinbürgertum, dazu tanzen die Jungs von den Istanbul Stylebreakers, denen Fatih Akin in seinem Film ein Denkmal setzen will.

Klassik? Tradition? Aber natürlich. Die Istanbuler Stiftung für Kultur und Kunst veranstaltet jedes Jahr die größten Events der Stadt: Das Filmfestival im April/Mai, das Musikfestival im Juni, das Jazzfest im Juli und alle zwei Jahre einmal das Theaterfest im Mai und die Kunstbiennale im Herbst. Es kommen Weltgrößen von den Berliner Philharmonikern bis hin zu Chick Corea oder Miles Davis. Ein Konzert in der sechshundert Jahre alten Aya-Irini-Kirche kostet dann auch 50 Euro, samt dem Glas Sekt oder Wein vor der Vorstellung im Garten des Topkapi-Palastes. Hochkultur ist teuer. Das Filmfestival schlägt eine Brücke zwischen den türkischen Filmschaffenden und den ausländischen Teilnehmern; das Theaterfest bietet vor allem den Ensembles aus dem Gebiet zwischen dem Balkan und Kaukasus Raum, und die Biennale lockt die junge Avantgarde aus Europa und Asien an den Bosporus. Brass Bands aus New Orleans machen auf den Bosporusfähren Jam-Sessions, in verrauchten Kellern in Beyoglu wird nach dem im zula steckenden baba joint gegriffen.

Wer jetzt im Herbst Istanbul genießen kommt, wird Anfang September gleich mit dem allerersten Fischfestival der Stadt begrüßt, das am Goldenen Horn stattfinden wird und neben Angelpartien auch Dia-Abende in Fischerhütten oder Schwimmwettbewerbe im Bosporus einschließt. Am 28. August kommen Jethro Tull, dieses Jahr schon zum zweiten Mal, weil sie im Mai auf ein enormes Interesse von Seiten der Istanbuler gestoßen sind. Am 19. September wird Nick Cave am Bosporus sein. Auch das Akbank Jazz Festival wird im Oktober Weltstars auffahren: McCoy Tyner, Miroslav Vitous und The New York Voices sind die berühmtesten der vielen in- und ausländischen Teilnehmer. Im November dann das Efes Pilsen Blues Festival. Und wem das viel zu viel ist, der setzt sich bei Sonnenuntergang mit einem Glas Wein ans Wasser und lauscht der Musik der heimkehrenden Fischerboote.