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: Ein „Nathan“ mit leichter Hand

Nach vielen Jahren habe ich Lessings „Nathan“ wieder gelesen. Ich war begeistert wie beim ersten Mal von der Komplexität und Leuchtkraft, die dem Theaterstück innewohnt. „Was für ein zeitgemäßer Stoff!“, habe ich natürlich gedacht und: „Hört das denn nie auf?“ Seit je plündern die Menschen ihre Religion, um an Argumente zu kommen, mit deren Hilfe sie zu rechtfertigen versuchen, dass sie einander die Köpfe einschlagen – was für ein mieses Spiel! Und was für eine Weitsicht bei Lessing. Aber ich war auch wieder enttäuscht, wie wenig geschmeidig die Sprache ist und wie blutleer die Figuren sind, die nicht recht atmen wollen. Lessings Nathan möchte man schütteln oder ihm ordentlich Wein einflößen, auf dass er endlich zum Leben erwacht. Dieser Nathan ist zu klug, um wahr zu sein.

Insofern liegt die Idee nahe, da etwas nachzuhelfen. Mirjam Pressler, begnadete Übersetzerin und auch Jugendbuchautorin, hat die Essenz von Lessings „Nathan“ zur Grundlage ihres neuen Romans gemacht. Dabei hat sie weit mehr als nur die Grundzüge des Stücks übernommen, allerdings auch Figuren hinzugefügt: zum Beispiel einen verkrüppelten Straßenjungen, der im Hause Nathans Obdach und Heilung erfährt; einen Verwalter und eine Haushaltshilfe. Das Personal im Hause des reichen Kaufmanns dient ihr als Querschnitt durch die Gesellschaft – vom Gossenjungen über die Magd zum kaufmännischen Mittelständler. Verändert hat Pressler auch das Ende: Wie in George Taboris Lessing-Übermalung „Nathans Tod“ lässt sie den Weisen sterben. Zu wirklichkeitsfremd wäre ihr wohl ein allzu versöhnliches Ende vorgekommen.

Mirjam Pressler hat das Stück in Erlebnisräume zerlegt. Jedes Kapitel wird von einer der Figuren in der Ich-Perspektive erzählt. Dabei hat sie Recha, der angenommenen Tochter Nathans, einen Platz in der ersten Reihe zugewiesen. Die Liebesgeschichte zwischen Nathans Tochter und dem Tempelherrn hat sie behutsam ausgebaut, ohne dass der Text nun vor Gefühligkeit tropfte. Allerdings hat sie Lessings Auflösung der Verliebtheit durch die Entdeckung, dass das heiratswillige Paar in Wirklichkeit Bruder und Schwester ist, gestrichen und darauf verzichtet, die Liebe zu entschärfen.

Das alles ist nachvollziehbar und gewinnbringend. Am erstaunlichsten aber ist der Erzählfluss, der nun ganz natürlich dahinmäandert, dramatisch geschickt unterbrochen von Wasserfällen, Schleusen und sandigen Untiefen. Ein besonderer Vorzug dieser Romanform ist es, dass Religionsgeschichte, Wissenswertes über die Kreuzzüge und die Lebensweisen der Zeit in eine spannende Handlung eingebettet sind. Ohne dass es lehrmeisterlich klänge, erfährt der Leser viel über Jerusalem am Ende des zwölften Jahrhunderts. Gut ist auch, dass die Romanform die Möglichkeit für innere Monologe schafft. Man schaut also nun sehr modern auf die Vielfalt des Denkens und vor allem des Fühlens, neben die historisch-politische tritt eine psychologische Tiefe, die Lessings „Nathan“ in dieser Form fehlt. Der Leser erlebt mit, wie das Erleben die Seele prägt, wie Gewalt Gewalt gebiert und die Eskalation nicht nur politisch, sondern vor allem in den Köpfen der Kombattanten fortschreitet.

Sicher, Mirjam Pressler lockt ihre jungen Leser mit einem niedrigschwelligen „Nathan“, der sprachlich eingängig und leicht zu lesen ist. „Nathan und seine Kinder“ liest sich so weg. Aber in der Sache ist die Autorin standhaft geblieben und hat die Komplexität erhalten. Sie hat den Stoff nicht auf Zeitgemäßes abgeschliffen, sondern ihn durch die Psychologie der Figuren erweitert. Nach Freud muss man die Konflikte anders begründen als damals. Das schafft Pressler mit leichter Hand.

ANGELIKA OHLAND

Mirjam Pressler: „Nathan und seine Kinder“. Beltz & Gelberg, Weinheim 2009, 264 Seiten, 16,95 Euro