„Wie Willi von nebenan sein“

Mädchen wollen genauso cool sein und genauso funktionieren wie Jungs. Deshalb greifen sie immer öfter zur Flasche, sagt die Sozialpädagogin Katharina Sonn

KATHARINA SONN, 46, Sozialpädagogin, arbeitet seit fast 20 Jahren in der Suchtberatung „frausuchtzukunft“ in Berlin.

taz: Frau Sonn, beim Komatrinken sind immer mehr Mädchen zwischen 10 und 15 Jahren ganz vorn mit dabei: 2008 waren es rund 2.000 Mädchen und 1.800 Jungen. Wie kommt das?

Katharina Sonn: Bei den ganz jungen Mädchen hat es viel mit der Pubertät zu tun. Hinzu kommt der Druck, cool sein zu müssen. Die Mädchen wollen unbedingt mithalten. Und wenn dann ein starkes Gegenüber fehlt, liegt Alkohol nahe.

Das müsste bei Jungen doch ähnlich sein. Sie stehen auch unter Druck und müssen cool und stark sein.

Natürlich. Trotzdem ist der Druck auf Mädchen in dem Alter größer.

Warum?

Weil bei ihnen im Alter zwischen elf und zwölf Jahren mehr passiert. Sie bekommen ihre Regel, einen Busen, sie bekommen einen ganz anderen Körper. Das verunsichert sie massiv.

Wie kann man ihnen helfen?

Es müsste jemanden Verlässliches geben, mit dem sie darüber reden können. Seit einigen Jahren ist aber die gesamte Jugendhilfe derart gekürzt worden, dass es eben nicht mehr viele Ansprechpartner gibt, wenn der Familienzusammenhang nicht funktioniert.

Und wer keine Hilfe findet, passt sich mehr den Medienbildern an?

Ja. Die Mädchen wollen auf jeden Fall funktionieren, nicht auffallen und das machen, was alle anderen auch machen. Dafür ist Alkohol wie geschaffen. Alkohol ist eine Normalisierungsdroge, man spürt den Leistungsdruck nicht mehr so stark: in der Schule, der Ausbildung, in ihrem persönlichen Umfeld.

Und gleichzeitig wollen junge Mädchen sexy sein.

Natürlich ist ihnen das Aussehen wichtig. Bei süchtigen Mädchen und Frauen ist der Drang, dünn zu sein, sehr stark.

Was hat das Dünnsein mit Alkohol zu tun?

Die meisten Klientinnen in unserer Beratungsstelle versuchen, sich mit Hilfe von Alkohol herunterzuhungern. Wenn sie enorm viel trinken, funktioniert der Organismus nicht mehr richtig und sie haben keine normalen Hungergefühle mehr. Werden sie dann clean, ist es für sie oft das Allerschlimmste, dass der Körper wieder anfängt, zu seinen normalen Funktionen zurückzufinden: Sie kriegen wieder ihre Regel und nehmen zu.

Verstärken Musikfernsehen und Model-Sendungen den Schlankheitsdruck?

Ja, das tun sie. Aber das Problem gab es schon vor Heidi Klum.

Dabei scheinen Mädchen heute doch selbstbewusster als früher zu sein.

Haben Sie „Prinzessinnenbad“ gesehen? Die Dokumentation zeigt Mädchen, die das Gros derer ausmachen, die suchtgefährdet oder überhaupt gefährdet sind, rauszufallen. Und die denken: Alles was die Jungs haben, kann ich auch: Trinken, Rauchen, Sex haben. Ganz selbstverständlich gehen sie davon aus, dass sie das Gleiche können wie „Willi von nebenan“. Das Problem ist nur: Willi kann nicht schwanger werden und gilt auch nicht als Schlampe, wenn er viel Sex hat. Diese Stigmatisierung kommt schnell.

Viele Eltern kommen in so einer Situation mit ihren Kindern nicht mehr zurecht. Wie können sie damit umgehen?

Ganz wichtig ist es, über Verhütung zu reden. Außerdem ist es wichtig, dass Eltern sich dafür interessieren: Mit wem triffst du dich, wen findest du gut? Viele Mädchen fangen genau in der Pubertät an, also mit elf oder zwölf, zu rauchen und stöbern das erste Mal in der elterlichen Hausbar. Das müssen die Eltern mitkriegen und dann da sein.

Wie soll das zum Beispiel eine Alleinerziehende schaffen?

Mit Unterstützung. Am besten ist natürlich ein funktionierender familiärer Zusammenhang. Ob nun mit Tanten oder Großeltern, das ist egal.

Den viel beschworenen neuen Vater erwähnen Sie gar nicht.

Bei uns taucht er nicht auf. Die meisten Väter sind einfach ganz weg. Vor allem jüngere Mädchen, die zu uns kommen, haben eine Mutter – und fertig. Kein aktiver Vater weit und breit. Überhaupt fehlen in der Suchtberatung die Männer auf allen Ebenen – auch als Berater.

Und deswegen nehmen suchtkranke Jungs weniger Hilfen in Anspruch als Mädchen?

Ja. Viele Jungen haben schreckliche Sachen erlebt. Doch sie sprechen nicht darüber und schämen sich. Es passt nicht in ihr Männerbild. Deswegen kann es ein Problem sein, wenn in Suchtberatungsstellen nur Frauen rumsitzen. Männer sollten Männer mehr in die Pflicht nehmen. Es wäre wichtig, dass Männer ihnen zeigten, dass man männlich sein und trotzdem über Probleme sprechen kann.

INTERVIEW: INES KAPPERT