Koffer voll verlorener Dinge

Peter Greenaway stellt auf dem Filmfest seinen Film „The Tulse Luper Suitcases, Part I: The Moab Story“ vor

„Stamp out the evil“, schreit der Vater des 10-jährigen Tulse Luper, während er auf ihn einprügelt. Der Junge hatte Erster Weltkrieg gespielt; sein Vater will verhindern, dass je wieder Krieg ausbricht. Doch Tulse Luper (JJ Field) möchte nichts in sich eliminieren – sondern Dinge sammeln: verlorene Städte und Menschen. „He became a writer; but although you could call him a naturalist, he was trained as an archeologist and was mostly seen as a collector“, stellt ihn der Erzähler vor; einer der vielen Erzähler, die Greenaway in kleinen digital erzeugten Fenstern einblendet.

Luper ist auf keine Rolle festzulegen; er besteht hauptsächlich aus Begegnungen, die andere Menschen herbeiführen, aus Verletzungen, die sie ihm zufügen, und aus Erinnerungsfetzen, die als gesamplete Sätze aus der Vergangenheit hereinbrechen. Im Offenlegen solcher Assoziationsketten erzählt der Film sein eigenes Zustandekommen mit: Die Idee, aus South Wales in die Wüste von Moab, Utah zu gehen, entstammt vagen Vorstellungen, wie es in der Sahara aussieht, Eindrücken aus Western sowie einem Kalenderbild im Bad der Großmutter von Lupers bestem Freund – entsprechend klischeehaft mutet die Kulisse im Hintergrund der Moab-Episode an.

Immer wieder bricht die Produktion des Films in die Handlung ein: Eingeblendete Szenen aus dem Casting verwandeln sich in Schauspiel, verworfene Passagen werden wiederholt, Vor- und Rückblenden liegen übereinander, schieben sich gegeneinander in den Vordergrund. So holt der Film ständig sich selbst ein, ordnet seine eigene Entstehung neu und richtet gerade dadurch heilloses Chaos an. Geometrische Ordnungsmuster strukturieren die Handlung: nummerierte Koffer mit Dingen, die einzelne Punkte in der Erzähl-Collage fixieren, weisen wie Hyperlinks eines Website auf eine hinter der Handlung liegende Informationsebene. Verbindungsstriche bringen die durchlaufend gezählten Schläge, die Luper im Laufe seines Lebens erleidet, in ein Verhältnis zueinander. Die Kategorie „92 objects to represent the world“ hebt scheinbar eine bestimmte Qualität unzusammenhängender Gegenstände hervor. Dabei tritt die Zahl 92 vieldeutig auf: Sie benennt nicht nur die endgültige Anzahl von Lupers Koffern, sondern stellt außerdem die Ordnungszahl von Uran dar, 1928 in Colorado entdeckt, auf dessen Besitz zumindest die Mormonen im Nachbarstaat Utah ganz heiß sind.

Dem Geheimnis, warum die Welt so ist, wie sie ist, kommt Luper durch seine Reise kaum näher. Er landet immer wieder im Gefängnis, für Delikte, die er begangen hat, und solche, die er nicht begangen hat. Sehr viel Zeit seines Lebens eingesperrt zu verbringen, wird eine Normalität für ihn, die ihn nicht mal erkennen lässt, dass es sich dabei um eine Tatsache handelt: Denn dazu müsste sie ihm erst auffallen. Die meisten Menschen, so der Erzähler, schleppten ihr Gefängnis mit sich herum – sei es in Form einer Idee, einer Erinnerung, einer Person oder von Sex. Greenaways Protagonist, so scheint es, ist von alledem besessen.

Gesellschaftlich geächtete und gerade darum begehrte Leidenschaft spielt in jedem Film des exzentrischen Regisseurs eine herausragende Rolle, und die Szenen, in denen die weibliche Objekt-Darstellerin, die diesmal praktischerweise gleich „Passion“ heißt (gespielt von Caroline Dhavernas), sich willig begrapschen lässt, sind einigermaßen altbacken. Aber durch die biederen Bürgerphantasien schimmert von Zeit zu Zeit der Abgrund. Sie mag keinen Gasgeruch, sagt Passion beim Zahnarzt in Antwerpen, der zu Ravels „Boléro“ insbesondere ihren Oberkörper untersucht, und sprüht Parfum in den Raum.

The Tulse Luper Suitcases sind als dreiteiliges Monumentalwerk geplant, in dem es praktisch um alles geht. Produktionsfirmen aus acht Ländern beteiligten sich an der Entstehung; eine 92-teilige DVD-Reihe, CD-Roms und mehrere Bücher sollen in Vorbereitung sein. Am Ende des ersten Teils hängt die Handlung in den vierziger Jahren in der Luft – Teil 2 soll zur Berlinale im nächsten Jahr erscheinen. Wer Fragen an den Regisseur hat, sollte die Gelegenheit nutzen. Katja Strube

(engl. OF) morgen, 19.30, Abaton (mit Regisseur Peter Greenaway) + Mo, 21.30, Grindel; Hyatt-Filmtalk u. a. mit P. Greenaway: morgen, 23 Uhr (Einlass 22 Uhr), Logensaal der Hamburger Kammerspiele (Eintritt frei)