Arbeit muss sich wieder lohnen

Die Lohnpolitik der letzten Jahre ist verfehlt: Sie sichert den Unternehmen Gewinne, schafft aber weder Arbeitsplätze noch Konsum. So wird’s nichts mit dem Aufschwung

Niedriglöhne sind längst ein Massenphänomen geworden, mit Hartz IV werden sie noch zunehmen

Die Diskussion um Mindestlöhne kommt nicht überraschend. Sie ist das Ergebnis einer seit langem verfehlten Lohnpolitik, die Arbeit immer billiger machen will. Das Fatale daran ist nur, dass die Lohnhöhe in einer Volkswirtschaft darüber entscheidet, ob die hergestellten Güter und Leistungen von den Unternehmen verkauft werden können. Alles, was nicht den Beschäftigten an Lohn zukommt, wird von den Unternehmern und Vermögenseigentümern in Form von Gewinn, Zinsen, Dividenden etc. vereinnahmt. Dieser Anteil an der Wertschöpfung sollte gemäß marktwirtschaftlicher Ideologie, nach Abzug des Unternehmerkonsums, überwiegend investiert werden, damit die Wirtschaft wächst und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Nicht neue Arbeitsplätze sind jedoch wirklich das Ziel, sondern heutzutage geht es nur noch darum, mehr Gewinne zu erzielen.

Die Ware Arbeitskraft ist dabei nur ein Instrument: Der Lohn stellt aus Sicht der Unternehmer eine Gewinnbedrohung dar. Mittlerweile glauben auch fast alle Politiker, dass die Arbeitseinkommen in Deutschland zu hoch seien. Dies würde für das direkte Arbeitsentgelt genauso gelten wie für die so genannten Lohnnebenkosten. Beides ist vor dem Hintergrund der Produktivität und daraus abgeleiteten Lohnstückkosten allerdings falsch. Die neoliberale Therapie mit Lohnsenkung, Niedriglohnsektor und Hartz IV wird dennoch gebetsmühlenhaft weitergepredigt und umgesetzt. Die Ergebnisse sind zu betrachten: Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und Umverteilung, mit einer gehörigen Entwicklung zu immer mehr Armut in Deutschland, bis hin zur Zunahme von Staatsverschuldung.

Statt aus den Fehlern endlich zu lernen, wird weiter neoliberale, ökonomisch irrationale Wirtschaftspolitik praktiziert und die Dosis der krank machenden Medizin sogar noch erhöht. Man ist ernsthaft der Auffassung, dass durch eine Beschneidung der Arbeitseinkommen eine Wirtschaft angebotsorientiert gesunden kann. Wer ökonomischen Verstand hat und nicht zu den ideologischen Interessenvertretern des Kapitals zählt, dem müsste eigentlich auffallen, dass eine Wirtschaftskrise in erster Linie etwas mit fehlender Nachfrage zu tun hat. Ohne Nachfrage findet selbst das produktivste und kostengünstigste Angebot keinen Käufer – allenfalls im Ausland hat es Chancen. Nur, darauf allein lässt sich eine Volkswirtschaft in der Größe Deutschlands nicht ausrichten, zumal bei immer mehr abgesenkten Löhnen Kaufkraft an den Binnenmärkten fehlt und die Gefahr einer nachhaltigen Deflation besteht.

Vor der heute grenzenlos neoliberalen Einheitsmeinung galt noch als ehernes ökonomisches Gesetz, dass sich die Arbeitsentgelte an der gesamtwirtschaftlichen Produktivität zu orientieren haben. Damit ist eine so oder so immanent krisenhafte kapitalistische Wirtschaft zumindest einigermaßen auf Wachstum und Beschäftigung auszurichten. Zudem gilt: Wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt, sind die Instrumente einer Fiskal- und Geldpolitik gefordert. Bezogen auf das Arbeitsentgelt war allen klar, dass die nominalen Löhne und Gehälter von Jahr zu Jahr mit der Produktivitätsrate plus der Preissteigerungsrate zulegen müssen. Die damit einhergehende Verteilungsneutralität zwischen Arbeitseinkommen und Gewinnen akzeptiert das Kapital in Deutschland aber schon lange nicht mehr. Die Gewerkschaften sind in Anbetracht der verfestigten Massenarbeitslosigkeit, die aus Deutschland einen Unternehmerstaat gemacht hat, zu schwach, um noch produktivitätsorientierte Löhne und Gehälter durchzusetzen.

Die Macht der Gewerkschaften ist teilweise gebrochen: Sie können kaum noch durch Streiks eine kollektive Verknappung des Arbeitsangebots herbeiführen und damit nach oben für reale Arbeitsentgelte in Höhe der Produktivität sorgen und nach unten ein Lohndumping verhindern. Die Flächentarifverträge sind durch Öffnungs- und Härtefallklauseln, gespaltene Entgelttabellen und Einsteigetarife längst durchlöchert wie ein Schweizer Käse, in Ostdeutschland werden sie kaum noch angewendet. Eine von den Gewerkschaften verbal noch bekämpfte betriebliche Tarifpolitik ist faktisch immer mehr auf dem Vormarsch.

Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung betont, dass es längst nicht mehr darum geht, „ob sich die Gewerkschaften überhaupt auf den Trend zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik einlassen sollten“. Diese Frage sei durch die tarif- und betriebspolitische Realität längst überholt.

In Wirklichkeit ist es sogar viel schlimmer. Dies gilt für alle Bereiche der Wirtschaft, in denen die Gewerkschaften noch nie eine besonders hohe Präsenz vorweisen konnten und Tarifverträge ein Fremdwort sind: in den kleinen und mittelgroßen Unternehmen. In Betrieben mit fünf bis zwanzig Beschäftigten können in Deutschland nur 10 Prozent der Beschäftigten auf einen Betriebsrat verweisen. In Branchen mit kleinstbetrieblicher Struktur, etwa bei allen freien Berufen, gibt es für die Beschäftigten nur Abhängigkeit, aber keine tariflichen Vereinbarungen. Hier wirkt das eh vorhandene Machtungleichgewicht an den Arbeitsmärkten zugunsten des Kapitals mit unnachgiebiger Härte.

Hinzu kommt als Ergebnis neoliberaler Wirtschaftspolitik eine erschreckende Zunahme an prekären Arbeitsverhältnissen, an Working-Poor-Jobs. Seit 1980 ist allein die Zahl der Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland um 1,4 Millionen gesunken, gestiegen um 400.000 ist jedoch die Zahl der Niedriglöhner auf Vollzeitstellen. Mittlerweile erhalten rund 6,3 Millionen Frauen und Männer, ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland, einen Niedriglohn, der unter 75 Prozent des durchschnittlichen effektiven Vollzeitverdienstes liegt. Niedriglöhne sind ein Massenphänomen geworden. Und sie werden mit den durch Hartz IV veranlassten Maßnahmen weiter zunehmen. Dies haben die Gewerkschaften nicht verhindern können. Es liegt deshalb nahe, dass sie auch in Zukunft nichts dagegen tun können.

Die Ergebnisse der neoliberalen Therapie sind zu betrachten: Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit

Was spricht vor diesem Hintergrund noch gegen einen staatlich festgelegten Mindestlohn? Eine Unterminierung der Tarifautonomie? Wohl kaum. Diese ist längst unterminiert! Eine gesetzliche Lohnfixierung am unteren Ende der Lohnskala zieht auch nicht alle Löhne nach unten. Dies zeigen die Erfahrungen mit Mindestlöhnen im Ausland. Sie stabilisieren eher die Tarife. Die Arbeitgeber, die ihnen nahe stehenden Politiker und Wirtschaftswissenschaftler haben natürlich etwas gegen die Einführung eines Mindestlohns, der mindestens oberhalb der Pfändungsgrenze von 930 Euro pro Monat liegen sollte. Sie wollen noch mehr neofeudalistische Working-Poor-Jobs, und vor allen Dingen wollen sie Umverteilung – zugunsten der Gewinne. Dies aber wird die Wirtschaftskrise unausweichlich verschärfen.

HEINZ-J. BONTRUP