Die Welt als -> Lexikon

Schriften zu Zeitschriften: Das Monatsmagazin „Du“ hat einen neuen Eigentümer und glänzt mit einem Special, in dem 147 Autoren eine aktuelle Enzyklopädie von „AAA“ bis „Zukunft“ verfassen

von EVA BEHRENDT

Weil Welt nicht linear strukturiert ist, zum Alphabet aber noch keine Alternative vorliegt, bleibt das Enzyklopädische die letzte Form, Dinge und Denken zu verzeichnen. Schon Diderot und D’Alembert im absolutistischen Frankreich verstanden ihre damals weltgrößte Enzyklopädie als „Verknüpfung der Wissenschaften“, als vollständige Sammlung aller Kenntnisse und als aufklärerisches Projekt. Ihrem Werk entspricht heute das nichtkommerzielle Netzprojekt www.wikipedia.org, das von allen, die Zugang zum Internet haben, verfasst und redigiert werden kann und das seit der Gründung im Januar 2001 auf über 155.000 verlinkte Einträge in mehreren Dutzend Sprachen, darunter Plattdüütsch, angewachsen ist.

Genau wie -> Enzyklopädie gehört -> Wikipedia zu den 315 Stichworten, die jetzt das Schweizer Monatsmagazin -> Du in einer Spezialausgabe unter der Überschrift „Was Zeitgenossen wissen müssen“ von A bis Z verzeichnet hat. Unter uns Zeitschriftenjunkies: Dieses Heft ist – anders als die meisten, häufig tantenhaft oder ökologisch überkorrekt anmutenden Du-Exemplare – eine absolute Really-must-have-Spezialausgabe. Fällt doch darin die goldene Designerformel „Form follows content“ mit kristalliner Selbstreflexivität zusammen: Das Thema der Sondernummer heißt -> Lexikon, also erscheint das Heft selbst als solches. Das Thema passt wiederum zur Logik des Lexikons, nach der Du in der Gesamtheit seiner monothematischen Ausgaben („Terrorismus“, „Nietzsche“, „Zwinglis Zürich“) funktioniert, wenigstens in den Regalen treuer Abonnenten. Und schließlich musste Du sich in seiner sinnhaften Gesamtheit erklären, weil auf einmal die Existenz zur Debatte stand: Die (Ex-)Eigentümerin Tamedia-AG sah sich gezwungen, das Magazin (Auflage: 16.700; Preis: 20 Franken; jährlicher Verlust: eine Million Franken) zum Verkauf zu stellen.

Dann muss man dieses Du haben, weil es fantastisch gut aussieht. Das psychedelische Cover (Benjamin Güdel), die eleganten Initialen (Miroslav Barták), die mit Sorgfalt und Witz gestalteten Farbtafeln – überhaupt die Dominanz der gezeichneten Illustration – rufen im Leser einen -> Erinnerungszwang an das kindlich erhabene -> Gefühl („die neue Weltmacht“, definiert forsch Christian Ankowitsch) hervor, das einst das Betrachten knisternd neuer Bilderbücher begleitete. Schließlich und drittens ist man im Titel ausdrücklich gemeint: als Zeitgenosse, den das Phänomen der Quizshow (oder: -> Superstar, [Land] sucht den) mehr interessiert als die richtigen Antworten darin, der also unausgesetzt seine -> Halbbildung zu erweitern trachtet. So folgt die redaktionelle Auswahl der Stichworte (von -> Demokratie bis -> iPod, -> Glomantisierung bis -> Heidenreich, Elke, -> Regietheater bis -> Xundheit) dem Zeitgeist, reiner Willkür und weltoffener Neugierde.

Definiert wird mit disziplinierter Knappheit (Jens Reich: Gentechnik) oder pointierten Prosaminiaturen (Sibylle Berg: Wunder), brillanter Essayistik (Ian Buruma: Fundamentalismus), sturer Auflistung (Ryan Adams: Popsongs, die 11 traurigsten) oder finalen Aphorismen (Gustave Flaubert: Blondinen, Brünette, Etat, Gott). Besonders lehrreich sind Erklärungen von Begriffen, die man noch nie gehört hat. Der -> Fröschlitest zum Beispiel bezeichnet in der Schweiz den Freischwimmer! Und während man in der -> Zeitschrift glücklich umherschweift und überraschenden Zusammenhängen nachgeht, teilt Du beständig mit, dass die Welt hoffnungslos unübersichtlich und aufregend komplex ist.

Ende letzter Woche hat der große Zürcher Tamedia-Verlag sein Nischenkulturprodukt an den kleinen, auf Architektur und Design spezialisierten Niggli-Verlag im ebenfalls nicht sehr großen Sulgen verkauft. Du wird erst mal weiter am enzyklopädischen Langzeitprojekt stricken. Zu bedauern bleiben die Tamedia-AG und mit ihr alle Institutionen und Unternehmen, die sich ausgerechnet von solchen Medienbereichen und Produkten trennen müssen, die kühn und schön die Verknüpfung von Wissenschaften betreiben.

„Du“, Nr. 739, Spezialausgabe. 106 Seiten, 11 €