Die Kanther-Monologe

AUS FRANKFURT HEIDE PLATEN

Der Scheitel ist scharf wie eh und je, eine gerade, rosa Schneise von der linken Schläfe bis zum Hinterkopf, die Kammzinken haben ordentliche Linien durch die weißen Haare gezogen. Manfred Kanther reckt das Kinn, presst die Lippen fest aufeinander, hält sich gerade wie ein General im Befehlsstand. Nur die Aktentasche zeigt schwarzlederne, abgewetzte Schwäche.

Seit Mitte August nimmt der 65-Jährige jeden Dienstag auf der Anklagebank im engen Schwurgerichtssaal A 135 des Wiesbadener Landgerichts Platz. Links neben ihm sitzt der greise Casimir Prinz zu Wittgenstein (87), Noblesse mit Einstecktuch, die Gesichtsknochen fein und scharf, die Augen aber trübe, der Blick oft abwesend. Wittgenstein ist schwer krank. Gegenüber sitzt der ehemalige Finanzberater Horst Weyrauch (72), agil, leut-, aber auch rührselig. Kanther und Wittgenstein müssen sich der Untreue zu Lasten der CDU in der 2000 öffentlich gewordenen hessischen CDU-Schwarzgeldaffäre verantworten, Weyrauch ist wegen Beihilfe angeklagt. Die drei hätten, so Staatsanwalt Wolf Jördens, seit 1983 „in Wiesbaden und andernorts gemeinschaftlich handelnd“ die Vermögensinteressen ihrer Partei verletzt. Sie hätten die „konspirative Verbringung“ von 20,8 Millionen Mark in die Schweiz „von Anfang an bewusst“ betrieben.

Manfred Kanther nutzt das Verfahren als Forum. Er gestattet sich Selbstmitleid. Doch bei ihm klingt das wie ein Angriff, Verteidigung gegen den Feind noch beim letzten Gefecht. Er teilt Medienschelte aus. Kinder, Enkel, Nachbarn seien behelligt, eine „Kampagne“ gegen ihn angezettelt worden. Er spricht von „einem Vernichtungsfeldzug“ gegen seine Partei und seine Person. Fünf Jahre lang sei er „vorverurteilt“ worden: „Gegen diese Form der öffentlichen Verhandlung gibt es nur die Gegenwehr im Gerichtssaal.“

„Linkswütiger Zeitgeist“

Dass er 1983 zusammen mit den beiden Mitangeklagten 20,8 Millionen Mark unbekannter Herkunft von hessischen CDU-Konten bei der Frankfurter Metallbank auf drei Konten in der Schweiz schaffte, scheint ihm auch im Nachhinein nur recht und billig. Aus heutiger Sicht, sagte er am ersten Verhandlungstag, sei sein Handeln vielleicht nicht mehr verständlich. Kanther berichtet, als habe damals Kriegszustand geherrscht zwischen ihm, dem unbeugsamen Rechtsaußen der Partei, und dem Rest der Welt, der aus Gewerkschaften, Sozialdemokraten und noch schlimmeren Linken bestand. Immer wieder habe man die vor allem auf die hessische CDU gerichtete „linke Speerspitze“ abwehren müssen, sei „standhaft geblieben“ in der Bündnistreue zur Nato, im Festhalten an der deutschen Einheit und am Extremistenbeschluss, bei der Abwehr der innerbetrieblichen Mitbestimmung. Das Geld sei „übrig“ gewesen, rechtmäßiges Parteivermögen, angesammelt aus heute nicht mehr verifizierbaren Beträgen, darunter wahrscheinlich auch Spenden. Damals aber habe der Flick-Spendenskandal die Republik bewegt, Spender und deren verdeckte Parteienzuwendungen in Verruf gebracht: „Die Spendernamen wären auf dem offenen Markt zerpflückt worden.“ Man fürchtete „Rückforderungen von verängstigten Spendern“ und habe Sorge gehabt, dass von ihnen „neues Geld nicht kommt, wenn altes bekannt ist“.

Kanther argumentiert, als sei die damals bevorstehende Novellierung des Parteiengesetzes, die die Ausweisung hoher Spenden verlangte, vom Weltkommunismus angezettelter Klassenkampf gewesen. „Unverhofft“ sei die Spendenfrage zu einer „Politkeule“ für den Gegner geworden. Er stand, das sagt Kanther wirklich, gegen den „linkswütigen Zeitgeist“, sah seine Pflicht im Widerstand. In solcher Gefahr sei es umso wichtiger gewesen, Geld zu haben, um die „jederzeitige Kampagnenfähigkeit“ der CDU zu sichern. Kanther sieht sich selbst als gesetzestreuen Bürger vom Scheitel bis zur Schuhsohle. Er rückt sein Dilemma auf seine Weise zurecht. Ihm sei damals zwar bewusst gewesen, dass er „aus Leidenschaft für die politische Sache“ ein „persönliches, politisches Risiko“ eingehe, sagt er, aber niemals ein strafrechtliches: „Das war unsere absolute Grenze.“ Dass die gefälschten Rechenschaftsberichte der Partei, in denen das beiseite geschaffte Schwarzgeld nicht auftauchte, nicht ganz in Ordnung gewesen seien, wisse er auch. Das sei „ein Fehler“ gewesen, er habe bereut, die „Verantwortung übernommen“ und im Jahr 2000 sein Bundestagsmandat niedergelegt.

„Übertreue“

Dem Manne geht es außerdem um seine Ehre: „Wir haben uns um keinen einzigen Pfennig bereichert. Jeder Pfennig ist abgerechnet worden.“ Das Geld sei ausschließlich für die CDU verwandt worden: „Wir haben gehandelt aus einer anständigen politischen Motivation.“ „Wenn wir uns“, sinniert Kanther, „1983 20 Millionen unter den Nagel gerissen hätten“, dann hätte es auch „kein Verfahren“ gegeben. Er aber habe „uneigennützig“ gehandelt, das Geld „20 Jahre lang getreulich verwahrt und verdoppelt“. Kanther gibt vor Gericht ein Paradebeispiel der Primärtugend Tapferkeit. Nicht Untreue, sondern „Übertreue“ zur CDU hatte der geschmeidigere Weyrauch sein eigenes Verhalten genannt. Das trifft auf Kanther umso mehr zu. Und so mag man sich gut vorstellen, wie die drei Männer da am 22. Dezember 1983 zusammensaßen und darüber nachdachten, wie das schöne Geld gerettet, die Namen der Spender geheimgehalten werden könnten. Der Zweck heiligte die Mittel.

Teils hoben sie das Geld bar ab, teils verschoben sie es über mehrere Banken. Weyrauch holte es bei Bedarf wieder aus der Schweiz zurück und verteilte es dann auf offizielle Parteikonten. Die Herkunft des Geldsegens wurde verschleiert, als Darlehen oder Vermächtnisse getarnt. Weyrauch überwies es an Testamentsvollstrecker, die die vermeintlichen Erbschaften dann an die Parteikasse weiterreichten. Besondere öffentliche Empörung hatte ausgelöst, dass Prinz Wittgenstein noch 2000 steif und fest behauptet hatte, es stamme aus „jüdischen Vermächtnissen“, deren Erblasser anonym bleiben wollten. Nutznießer waren vor allem der Landes- und der Frankfurter Kreisverband. 1993 sei es den dreien, so die Anklage, unbehaglich geworden, weil Weyrauch krank und der allein zeichnungsberechtigte Prinz Wittgenstein alt wurde. Deswegen habe man die schweizerischen Konten aufgelöst und das Vermögen der Stiftung „Zaunkönig“ in Liechtenstein übertragen.

Der Lebenslauf des Manfred Kanther hat ihn geprägt. Er nutzt ihn zur Rechtfertigung. 1939 in Schlesien geboren, verschlug es seine Familie auf der Flucht nach Thüringen. DDR mag er die ehemalige Deutsche Demokratische Republik nicht nennen. Er benutzt noch heute den Kampfbegriff des Kalten Krieges: „SBZ“, „Sowjetische Besatzungszone“. Die verwehrte dem Abiturienten das Studium, der 18-Jährige flüchtete in die Bundesrepublik, studierte Jura. 1967 trat er seine erste Stelle als Stadtoberrechtsrat im nordrhein-westfälischen Plettenberg an.

In der CDU schaffte er sich aus Überzeugung nach oben. Sein fester Vorsatz, so Kanther, sei es immer gewesen, „jedweder sozialistischen Politik mit meinen bescheidenen Kräften entgegenzutreten“. Die Kräfte wuchsen. 1970 wurde er CDU-Landesgeschäftsführer, 1980 Generalsekretär. Mit fester Hand regierte er die Partei, beendete Flügelkämpfe, profilierte sich als Scharfmacher. Größter Erfolg war 1987 die Ablösung der sozialdemokratischen Landesregierung. Kanther wurde unter Walter Wallmann Finanzminister. Die Wahlniederlage 1991 machte ihm schwer zu schaffen. 1993 holte ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Innenminister in sein Kabinett. Dort stand er für Law and Order, fuhr harten Kurs, stärkte die Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten, verschärfte das Asylrecht. Nach der Bundestagswahl 1998 musste er sein Amt an Otto Schily (SPD) abtreten. Anfang 1998 übergab er den hessischen CDU-Parteivorsitz an Roland Koch – samt der illegalen Parteikasse in Liechtenstein. Koch versichert seither immer wieder, von „Zaunkönig“ habe er erst Ende 1999 erfahren.

„Ressourcenahnung“

Kanther ist auch im Gerichtssaal das Alpha-Tier, er führt das Wort. Weyrauch gibt sich als bezahlter Befehlsempfänger, der auf Anweisung gehandelt habe und behält sich „zunächst“ weitere Aussagen vor. Der Prinz schweigt ganz. Und so blieb es Kanther überlassen, zuzugeben, dass der eine oder andere in der Landesgeschäftsstelle dank der reichlich gewährten Wahlkampfgelder und sonstiger prompter Wunscherfüllung durch Schatzmeister Wittgenstein wohl doch „eine Ressourcenahnung“ gehabt haben könnte. Aber niemand habe nachgefragt. Er habe vermeiden wollen, „dass die Rücklage schnell aufgebraucht gewesen wäre“. Mit patriarchalischer Pädagogik teilte er zu. Dass er so der Partei Vermögen entzogen und sich damit strafbar gemacht habe, bestreitet er allerdings. Schließlich seien alle Wünsche von ihm erfüllt worden, manchmal auch widerwillig. Den Ankauf der teuren Wiesbadener Parteizentrale habe er für falsch gehalten.

Er habe, beteuerte er, immer nur das Beste für seine Partei gewollt. Er hat das Schlechteste erreicht, das „System Kohl“, das Ansehen der CDU und seines Nachfolgers Koch schwer beschädigt und die Gegner auf Jahre munitioniert. Zur tragischen Figur allerdings fehlt ihm die Größe, Kanther verfügt nur über Rückgrat.

Kanther fühlt sich als Opfer. Aber er ist auch Jurist. Deshalb wertete er seine Schuld zum Prozessbeginn vorsichtshalber nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich. Untreue habe er nicht begangen, das Geld sei der Partei nicht entzogen gewesen, sondern reichlich zurückgeflossen, die Gewinne hätten die Kosten der Transaktion bei weitem übertroffen. Bleibe der Vorwurf der falschen Rechenschaftsberichte. Der aber sei verjährt. Notabene werde ihm und seinen Mitangeklagten in Wiesbaden auf Betreiben der Wiesbadener Staatsanwaltschaft eher ein politischer als ein strafrechtlicher Prozess gemacht.

Rein formal könnte Kanther Recht behalten. Die 6. Strafkammer hatte das Verfahren nicht gewollt, eine ähnliche Rechtsauffassung vertreten wie der Angeklagte: keine Untreue, der Rest verjährt. Sie verhandelt wider ihren Willen, gezwungen durch einen Beschluss des Frankfurter Oberlandesgerichts vom Januar 2004. Das Verfahren soll mindestens bis Jahresende dauern. Als Zeuge ist auch der hessische Ministerpräsident Roland Koch geladen.