Ein Volk von Automaten

DAS SCHLAGLOCH VON KLAUS KREIMEIER

Alle sind am Ende ihrer Weisheit, aber niemand schießt sich eine Kugel durch den Kopf

Es war Freitag, und im Speisezimmer zog der deutsche Uhrmacher die Uhr auf. Leo N. Tolstoi, „Anna Karenina“, 1. Teil, 4. Kap.

Die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts kennt eine Vielzahl von Neben- und Randfiguren deutscher Herkunft. Grobschlächtige Gutsverwalter, die das Bauernvolk malträtieren, während sich der Gutsherr in Moskau oder St. Petersburg amüsiert. Ingenieure, die keine Gefühle und außer der Funktionsweise einer Dampfmaschine nichts im Kopf haben. Kurpfuscher und Quacksalber, die sich den besseren Kreisen als moderne Ärzte unentbehrlich zu machen suchen. Hauslehrer, denen russische Adlige ihre Kinder anvertrauen, weil sie das deutsche Handwerk bewundern und der Meinung sind, Erziehung hänge mit jener Rechteckigkeit zusammen, die von deutschen Tischlern erfunden wurde.

Bei Tolstoi, Dostojewski, Tschechow oder Lesskow parliert die elegante Gesellschaft gern Französisch oder, dem Zeitgeist folgend, auch Englisch; in der Oper ergötzt man sich an italienischem Gesang. Deutsch hingegen ist in der Regel ein Synonym für das Kunstlose, für die groben Seiten des Lebens, für den Mangel an Sentiment und Esprit, für die berühmten Sekundärtugenden und ganz besonders für Pünktlichkeit.

Dem höheren Staatsbeamten Stepan Arkadjewitsch Oblonski fällt angesichts des „pünktlichen, glatzköpfigen Uhrmachers“ in seinem Speisezimmer ein Witz ein: Dieser Deutsche werde sein ganzes Leben lang selbst aufgezogen, damit er schön akkurat die Uhren aufziehen kann. Dabei will sich Tolstoi an dieser Stelle gar nicht über die Deutschen lustig machen (oder nur insoweit, als es literarisch statthaft ist, sich über Randfiguren lustig zu machen), sondern über seinen Staatsbeamten Stepan Arkadjewitsch, dem beim Anblick des Uhrmachers immer nur derselbe Witz einfällt. Doch das Bild des Deutschen, der aufgezogen werden muss, damit er perfekt funktioniert, bleibt haften. Zumal als deutscher Leser fragt man sich an dieser Stelle besorgt, ob man wirklich und unwiderruflich einem Volk von Automaten angehört.

Nichts gegen Automaten, sie erleichtern unser Leben. Und nichts gegen Uhrmacher, sie haben schließlich einen nützlichen Beruf. Aber das Erschrecken darüber, dass man an sich selbst von Zeit zu Zeit automatische Reflexe und die Berufsethik eines Uhrmachers entdeckt, sollte uns erhalten bleiben. Und das tiefe Entsetzen darüber, dass wir in einer Welt leben, in der wir uns als aufgezogene Apparate zu bewähren haben, sollte uns niemand abkaufen dürfen.

Sind die Deutschen in diesem Punkt besonders anfällig? Will sagen: Sind sie für automatisches Funktionieren besonders prädestiniert? Wer sich in die großen russischen Romane vertieft, stößt immer wieder auf diese Frage. Er findet rudimentäre Hinweise auf das, was Tolstoi oder Dostojewski noch gar nicht wissen, nicht einmal erahnen konnten, weil es sich erst im 20. Jahrhundert ereignen wird. Und er findet, erstaunlich genug, manche Erklärung dafür, warum wir nach aktuellen Umfragen noch immer oder schon wieder das am wenigsten geliebte Volk Europas sind.

Dass die Konstruktion einer „nationalen Mentalität“ hoch problematisch und Vorurteile in Bezug auf „nationale Eigenschaften“ verwerflich sind – darüber lässt sich schnell Einigung erzielen. Automaten, Uhrmacher und Menschen, die wie aufgezogen agieren, finden sich in allen Nationalitäten, und wenn nicht alles täuscht, haben sie derzeit international das Heft in der Hand. Im Krieg gegen den Terror zum Beispiel, in dem bisher fast alles schief läuft – nicht obwohl, sondern weil ihm eine Mechanik eingebaut ist, die keine Abweichungen, keine Varianten zulässt. Oder wenn von den globalen wirtschaftlichen Notwendigkeiten die Rede ist, kann man den Eindruck gewinnen, dass aufgezogene Uhrmacher uns auf einen Gang der Dinge einschwören wollen, der rein gesetzmäßig einige Gewinner und viele Verlierer produziert, damit das Uhrwerk richtig geht und nichts ins Stocken gerät.

Solche monomanischen Leute gibt es schon in den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts; in den Salons der Aristokratie mischen sie sich als Deterministen, Monokausalisten und radikale Materialisten in die weltanschaulichen Debatten, streiten sich mit Nihilisten und christlichen Fundamentalisten herum und bringen nicht viel zuwege. Die soziale Lage bleibt unverändert, außer, dass im Landvolk und unter den Arbeitern einige kommunistische Aufrührer agieren und den Ausgebeuteten das himmlische Jerusalem auf Erden verheißen.

Keiner will Determinist sein,aber jeder nennt sein Programm alternativlos

Blickt man als Tolstoi-Leser in diesem Sommer über den Papierrand seiner Ferienlektüre auf die Lage unserer Bundesrepublik Deutschland, so findet man ähnliche Akteure, vergleichbare Strukturen, aber weitaus weniger Tragik wieder. Die Uhrmacher haben das Sagen. Sie werden von den Medien aufgezogen. Alle sind, genau genommen, am Ende ihrer Weisheit, aber niemand schießt sich eine Kugel durch den Kopf. Der Determinismus beherrscht die Hirne, und jeder verfolgt seine eingefahrene Spur. Keiner will Determinist sein, aber jeder nennt sein Programm alternativlos. In der Tat lässt sich die Uhrmacher-Gesinnung von heute am besten als Abschied vom Denken in Alternativen beschreiben.

Alternativlos spult die Regierung ihre Sozialreformen, die immerhin einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung in die Verarmung führen werden, als Programm gegen die Arbeitslosigkeit herunter. Obwohl nicht zu erkennen ist, dass auf diese Weise tatsächlich neue Arbeitsplätze entstehen werden, bleibt sie hartleibig und harthörig bei ihrem Kurs. Die Opposition opponiert, aber da sie ebenfalls keine Alternative hat, opponiert sie gegen die Informationspolitik der Regierung. Alternativlos reagieren die Gewerkschaften nach den längst obsoleten Gesetzen der Industriegesellschaft. Ihre Uhren sind voll aufgezogen, aber stehen geblieben. Und das Volk? Weil es tatsächlich keine andere Alternative hat, setzt es sich in Bewegung oder wählt – mal hier, mal da – die Regierenden ab. Alle Uhren ticken funktionsgemäß, aber jede „geht anders“. Die Uhrmacher, die sie aufgezogen haben, folgen ihrem je eigenen Automatismus und sind unfähig, sich darüber zu verständigen, ob und wie eine Synchronisierung zugunsten des Gemeinwesens bewerkstelligt werden kann.

Die großen russischen Autoren, die unter den Bedingungen des Zarismus schrieben und von einer Demokratie träumten, die in Russland bis heute nicht Wirklichkeit geworden ist, können uns natürlich nicht die Globalisierung erklären. Vieles, was ihnen „deutsch“ erschien, folgt einer Uhrmacher-Logik, die längst keine nationale Heimat mehr hat. Stepan Arkadjewitsch Oblonski in „Anna Karenina“ lächelt am Ende über seinen eigenen Witz – vielleicht auch darüber, dass ihm immer nur derselbe einfällt. Der Deutsche wird am nächsten Freitag wieder seine Uhren aufziehen, aber Stepan Arkadjewitsch muss ein Waldgrundstück verkaufen, damit er sich den Uhrmacher und sein sonstiges geregeltes Leben weiterhin leisten kann.