Der Sinn liegt auf dem Fließband

Im Defa-Film ist der Arbeitsplatz Dreh- und Angelpunkt des Geschehens: Hier wird der Reichtum produziert, hier wird der Einzelne an das Soziale gebunden. Ist das alles nur verlogene Sozialidyllik – oder beispielhaft für einen gelungenen Realismus?

VON MANFRED HERMES

Das populäre Kino mag die Arbeit nicht. Knapp gehaltene Löhne, verteuerte Kitas oder Arbeitslosigkeit gelten als langweilige, vulgäre, vielleicht auch ein bisschen archaische Sujets. Oder sie sind eben das trostlose Übel, dem ohnehin kaum einer entrinnt. Lieber werden da schon die Aufstiegs-, Geborgenheits- oder Allmachtswünsche bedient.

In Spielfilmen aus DDR-Produktion war das umgekehrt. Arbeit war der zentrale Faktor, das Gesellschaftliche alles. Das scheint auch denjenigen einzuleuchten, die mit „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ ein Regime antimodernistischer Darstellungsweisen assoziieren: heroisch geballte Fäuste, muskulöse Arbeiter und fleißige Laboranten, auf den Mauern des Sozialismus zur Sonne gewendet. Die Spielfilme der Defa decken sich aber nur an wenigen Stellen mit diesem Bild. Im Kino verliert der sozialistische Realismus schnell seine bleierne Aura und wird als Versuch erkennbar, realistische und innovative Gesellschaftsbilder zu entwerfen.

Als unmittelbar nach dem Krieg die Diskussionen über ein erneuertes Unterhaltungskino anstanden, war im sowjetisch besetzten Teil Deutschland zwar die grobe Richtung klar, Patentrezepte für ein ambitioniertes antifaschistisches Kino gab es aber nicht. Zwischen Neorealismus, Expressionismus, magischem Realismus, Eisenstein oder den proletarischen Filmen der Weimarer Zeit war vieles denkbar. Die Studioästhetik der ersten Filme erinnerte dann zwar manchmal an gerade untergegangene Zeiten, auf der erzählerischen Ebene waren die Veränderungen dafür umso unübersehbarer. In „Unser täglich Brot“ (Regie: Slatan Dudow, 1949) zieht sich der Kampf um ökonomische Konzepte mitten durch eine Familie. Der Vater war ein Mitläufer der Nazis, sein ältester Sohn ist Kommunist, und der jüngere versucht, sein Glück auf dem Schwarzmarkt zu machen, eine Nichte geht auf den Strich. Alles findet der verbitterte Mann vernünftiger als die sozialistischen Träume seines Sohns. Aber der Film steht natürlich auf dessen Seite und will beweisen, dass die Selbstverwaltungsfabrik besser ist als ihr kapitalistischer Vorgänger.

Von da an wird es kaum einen Defa-Gegenwartsfilm geben, in dem Arbeitswelt nicht stattfindet. Die jeweiligen grands projets wie die Landreform, der Wohnungs- und der industrielle Wiederaufbau kommen ebenso vor wie die verschiedenen administrativen Formationen. Selbst da, wo die Geschichte keinen direkten Bezug zum Arbeitsleben hat, lässt sich ein Werkbesuch einrichten. In besonders kecken Fällen („Maibowle“, 1959) findet die Modenschau direkt vor den Schloten des Chemiewerks statt oder wird das Labor zum Bühnenbild eines Musicals („Revue um Mitternacht“, 1962). Andererseits kann jedes Glied der Produktion zu einer Filmgeschichte werden. In „Karbid und Sauerampfer“ von Frank Beyer (1963) muss nach Kriegsende Schweißmaterial beschafft werden, zum Wiederaufbau eines Betriebs unabdingbar. Daraus wird ein heiteres Road Movie, in dem Erwin Geschonneck die Blechtonnen über die Hindernisse eines besetzten Nachkriegsdeutschlands rollt.

Der Arbeitsplatz ist also die wichtigste gesellschaftliche Szene, der Ort, an dem der Reichtum produziert, der Einzelne an das Soziale gebunden und mithin der gesellschaftliche Sinn fabriziert wird. In der Defa-Welt ist Industriearbeit aber auch ein widersprüchliches Konstrukt: Taylorismus ohne Monotonie. Der Mensch wird nicht zum Teil der Maschine, sondern passt sich in eine auch von Emotionen durchzogene Arbeitsorganisation ein. In „Der geteilte Himmel“ (Konrad Wolf, 1964) wird der nur durchschnittliche Ausstoß einer Waggonbaufabrik auf Reibungen innerhalb der Arbeitsgruppe zurückgeführt. Einer war bei der Wehrmacht, ein anderer im antifaschistischen Widerstand. Die gegenseitige Ablehnung hat sich in einem schweigenden Arrangement etabliert, das zur Produktionsbremse wird. Gesteigerte Produktivität ist auch ein Nebeneffekt gelungener Problemlösungen.

Frauen haben beim filmischen Aufbau neuer Subjektivitäten von Anfang an eine große Rolle gespielt. Bereits in den ersten Nachkriegsfilmen der Defa wird klargestellt, dass die Teilnahme am öffentlichen Leben Berufstätigkeit voraussetzt. Forderung geht auch hier schon mit Förderung einher, da die Frau sozusagen eine doppelte Proletarierin ist. Das hat Auswirkungen auf Themen und Haltungen: Sex oder Liebesverhältnisse sind weitgehend liberalisiert, der Ton zwischen den Geschlechtern ist pragmatisch. Die Liebe kann zwar die Verhältnisse mit Glück oder Traurigkeit durchkreuzen, zieht aber doch keine Metaphysik nach sich. Schon in den Filmen der frühen Jahre gibt es eine große Zahl unehelicher Schwangerschaften und allein erziehender Mütter, ohne dass eine Moral da etwas anderes als fehlende Kitaplätze zu beanstanden hätte („Bürgermeister Anna“, 1950). Man muss sich da ja nur die westdeutschen Mainstreamfilme dieser Zeit vor Augen führen, die Unterschiede sind geradezu schockierend: triefende Geschlechterbeziehungen, eine joviale Patronatswirtschaft und ein Neo-„Blut und Boden“ vor dem Hintergrund einer ansonsten gut verdrängten Vergangenheit.

Im Laufe der 50er-Jahre gewinnen neorealistische Atmosphären und Erzählhaltungen an Boden und verjüngen einige Defa-Filme, vor allem die des Teams Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase („Eine Berliner Romanze“, 1956). Die Pars-pro-toto-Arrangements von Teilhabe scheinen in der Jugend nicht mehr zu greifen. Auch die allseits stotternden Produktionsbedingungen markieren ein strukturelles Defizit, bringen aber auch das Individuelle wieder ins Spiel. In „Spur der Steine“ (Frank Beyer, 1966) ist eine Großbaustelle das Lebenszentrum der Brigade. Engpässe erzwingen das Ausloten von Freiräumen, Kommando und Anarchie kollidieren und weisen auf Widersprüche im Sozialismus hin. In diesen Momenten ist es so, als könnte es Kommunismus wirklich geben. Ulbrichts „unbestreitbare Tatsachen“ werden jedenfalls immer mal wieder in Frage gestellt und längst nicht alle diese Filme sind 1966 im „Giftschrank“ verschwunden.

Mitte der 60er-Jahre artikuliert eine junge, in der DDR aufgewachsene Generation eigenständige Mitspracheansprüche. Identitätskrücken wie Ex-Spanienkämpfer und KZ-Überlebende wirken erdrückend, der Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft sucht sich neue Wege. „Dr. med. Sommer II“ (Lothar Warneke, 1970) und „Karla“ (Herrmann Zschoche, 1965) erzählen vom Enthusiasmus der Berufsanfänger. Für die Lehrerin Karla ist die Schule ein Labor des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie glaubt, dass eine Kultur der Diskussion und des eigenständigen Denkens auch eine mächtige Triebfeder ist. Aber die von der Kriegsgeneration dominierte Schulleitung zerreibt ihre Ansätze durch Dogmatismus und ein ewiges Hin und Her (und einiges spricht dafür, darin auch die Probleme eines engagierten Filmemachens zu erkennen).

In den frühen 70er-Jahren erzeugt das „gesellschaftliche Ganze“ kaum noch affektive Bindungen. Berlin, die Hauptstadt der DDR, ist eine Großstadt wie jede andere, der staatsmonopolistische Sozialismus bringt ähnliche Tendenzen der Individualisierung und Vereinsamung hervor wie der Kapitalismus der bürgerlichen Freiheiten. Es fehlt an Optionen und den Momenten eines auch mal unsinnig rasenden Glücks.

Doch es gibt Motive des Gemeinschaftlichen, die sich auch in diesem Fremdeln erhalten. Die Sorge um den Kollegen, das zufällige Gespräch mit dem Fremden im Café, die Einladung in die fremde Wohnung, das Teilen von Essen und Trinken. Alles nur verlogene Sozialidyllik, nichts als Propaganda? Wenn ja, dann war das aber schon sehr gut gemacht. Was das auch immer für eine pervertierte Form von Sozialismus war, damals, da drüben in der DDR, die unter diesen Bedingungen entstandenen Filme gehören zu den schönsten deutschen der Nachkriegszeit. Liebevoller und stimmiger sind Milieus und zwischenmenschliche Verhältnisse selten gezeigt worden, eine ähnliche Entspanntheit sucht man gerade in heutigen Filmen vergebens.

Im Westen waren Defa-Filme weitgehend marginalisiert. Aber trotz dieser isolierten Lage hat es Verbindungen mit den Filmkulturen etwa Frankreichs, Italiens oder Englands gegeben. Das gilt nicht nur für Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel“, dessen sensuelle und temporale Qualitäten viel mit den Filmen von Alain Resnais zu tun haben. Die Verbindung war eher kulturpolitischer Art, denn nur in Ländern mit einer einigermaßen existenten Linken hat es auch einen sozialen Filmrealismus gegeben, der bereit war, „Arbeit“ gegen „Kapital“ zu stellen. Das Kino der Arbeit konnte als Neorealismus erscheinen, in Straub/Huillets Textarbeiten, im Ökonomismus von Ton und Bild bei Godard oder als Korporatismus bei Loach. Doch das steht jetzt auf einem anderen Blatt.