Surreal schlecht

Nur noch Kanonenfutter: Real Madrid geht in der Champions League gegen den FC Liverpool unter

LIVERPOOL taz ■ Als Letztes ging der Kapitän an Bord. Alle Real-Madrid-Spieler hatten sich in ihren schwarzen Anzügen längst in den Bus geflüchtet, nur Raúl stand noch tapfer vor den Mikrofonen und hielt die Begräbnisrede. „Wir müssen uns bei den Fans entschuldigen“, sagte der 31-jährige Stürmer, „wir waren heute der Situation nicht gewachsen.“ In der Tat hatte sich die Widerstandskraft Reals als viel zu klein erwiesen. „Liverpool war in allen Bereichen besser“, gab Raúl nach dem 0:4-Debakel ehrlich zu. „Furchteinflößend gut“ fand Torschütze Steven Gerrard, neben dem famosen Fernando Torres der herausragende Akteur auf dem Platz, den Auftritt seiner Elf.

Der bemitleidenswerte Torhüter Iker Casillas gab mit seinen Tränen das passende Bild ab für ein völlig aufgelöstes Madrid. Real-Fans riefen gar: „Liverpool, Liverpool“. Trainer Juande Ramos, der sein Gegenüber Rafael Benítez nach dem Hinspiel mit dem Vorwurf des „Anti-Fußballs“ geärgert hatte, gratulierte im Trophäensaal bleich zu einem „völlig verdienten Sieg“ der Engländer.

Die spanischen Journalisten wollten von Ramos eine Erklärung für den „Fluch“ hören, der zuletzt auf Madrid in der Champions League lastet. Der nur bis Ende der Saison als Interimscoach angestellte 54-Jährige verwies auf die „hohe Ausgeglichenheit in Europa“ und „die entscheidenden Nuancen“ hin, aber die Gründe für das fünfte Achtelfinal-Aus hintereinander sind weder einem böswilligen Zufallsgenerator der Uefa noch einer Verwünschung geschuldet. Madrid spielte miserabel. Seit 2002, also seit dem Sieg im Europapokalfinale gegen Leverkusen, sucht die Mannschaft nach ihrer Topform: 2003 kam man noch ins Halbfinale, 2004 ins Viertelfinale, 2005 nur noch in die Runde der Letzten 16. Dort hat man sich seitdem als prominentes Kanonenfutter etabliert.

Ein Spitzenklub ist nach so einem schweren, kurzen Schock gezwungen, lange in den Spiegel zu schauen. Madrid, das auf Grund der Setzliste Jahr für Jahr wenigstens die erste K.-o.-Runde erreicht, scheint dagegen weder zu wissen, wie es in diesen Sumpf des Durchschnitts geraten ist, noch, wie man da wieder herauskommen könnte. „Wir haben keine Spieler wie Messi oder Cristiano Ronaldo, wir müssen deswegen mehr eine Mannschaft sein“, hatte Verteidiger Fabio Cannavaro vorm Match gefordert. Man muss Cannavaros Einlassung als Hilferuf verstehen.

Der im Januar zurückgetretene Präsident Ramón Calderón hat in zweieinhalb Jahren über 300 Millionen Euro für 22 neue Spieler ausgegeben und es doch nur geschafft, das anonymste Starensemble der Welt zusammenzustellen. Echte Größen (Kaká, Fábregas, Ronaldo) waren nicht zu bekommen, um die Sehnsucht der socios, der Mitglieder, nach Glamour zu erfüllen. Es wurden willkürlich klangvolle Namen eingekauft. Heute ist der Kader vollgestopft mit Kickern, die schon gar nicht mehr richtig da sind (Rafael van der Vaart) oder noch nie richtig da waren (Reservist Christoph Metzelder). Stürmer Klaas Jan Huntelaar, für 20 Millionen Euro von Ajax verpflichtet, war am Dienstag nicht einmal spielberechtigt: Madrid hatte versäumt, das Regelwerk zu studieren.

Es ist schrecklich modern geworden, von Vereinen eine Identität zu fordern. Real, laut Fifa der „beste Klub des 20. Jahrhunderts“, braucht neben Demut, handwerklicher Sorgfalt und einem Hauch von Kontinuität vor allem: weniger Anspruch. Selbst Meistertrainer wie Fabio Capello waren dem Verein nicht gut genug. Seit 2002 hat die Hatz nach la décima, dem zehnten Europapokaltriumph, schon neun Trainer verschlissen.

RAPHAEL HONIGSTEIN