Menschen in einem harten Kampf, der Leben heißt

Włodzimierz Nowak schreibt großartige Reportagen aus dem Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen. Nun sind sie gesammelt auf Deutsch erschienen – sorgfältig arrangierte Schlaglichter, die zeigen, wie das Abstraktum Geschichte seinen Niederschlag im Schicksal der Einzelnen findet

Will man wissen, was die „Volksseele“ so denkt und fühlt, erweisen sich Taxifahrer seit je als verlässliche Seismografen. Als Peter Krüger Ende der Neunzigerjahre aus Berlin an die deutsch-polnische Grenze nach Guben kam, um dort mit Jugendlichen von beiden Seiten der Neiße Theaterprojekte zu entwickeln, bekam er im Taxi zu hören: „Wenn Polen in die EU kommt, dann kaufen wir dieses Gubin innerhalb eines Tages auf.“ Ein paar Jahre später klang das, wieder im Taxi, schon ganz anders: „Wenn die Grenze der EU auf der Neiße nicht mehr da ist, dann werden uns die aus Gubin auffressen. Sie werden noch an meine Worte denken.“

Guben und Gubin waren einmal eins, aber das ist lange her. Vor dem Krieg lagen auf dem rechten Ufer die Pfarrkirche, das Rathaus, der Markt und die Villen, auf der anderen Flussseite standen die Fabriken. Nach dem Krieg durchschnitt eine Grenze die Stadt und machte trotz sozialistischem Friedensgesäusel aus einem Ort zwei. Und nun müssen Gubener und Gubiner seit fast 20 Jahren wieder mühsam erlernen, wie man sich arrangiert in einem Europa, in dem die Binnengrenzen zunehmend an Bedeutung verlieren. Dass dabei die irrationalen Extreme dominieren, mag man bedauern; aber wie so oft, wenn die Geschichte schwer auf den Beziehungen zweier Völker lastet, ist das vermutlich auch eine Frage der Generationen.

Wo das deutsch-polnische Miteinander offenbar schon leidlich funktioniert, ist der Fachbereich Rechtswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Dort spricht man inzwischen „Viadrinisch“, will heißen: „Deutsche Wörter, polnische Syntax“, und gemeinsam lösen deutsche und polnische Studenten ihre Übungsfälle „Schritt po schrittche“. Auch als Konsumenten verhalten sie sich pragmatisch. Brot kaufen sie in Polen, weil es dort besseres gibt, Kosmetik- und Drogerieartikel dagegen diesseits der Grenze, „Schuhe in Polen, Klamotten in Deutschland“.

Vielleicht ist es ein Glück, dass Włodzimierz Nowak, Jahrgang 1958 und seit 16 Jahren Reporter bei der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, einer Zwischengeneration angehört: spät genug geboren, um den Krieg nicht mehr erleben zu müssen, und früh genug, um all den Umbrüchen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs mit einer gewissen Lebenserfahrung zu begegnen. Die zwölf Reportagen aus den Jahren von 1997 bis 2006 jedenfalls, die hier erstmals auf Deutsch veröffentlicht werden, sind definitiv ein Glücksfall. Und sie sind – neben Mariusz Szczygiełs wundervollem „Gottland“ oder Andrzej Stasiuks Reisereportagen – ein weiterer Beleg dafür, welch hohe Kunst des Journalismus bei unseren östlichen Nachbarn offenbar gepflegt wird.

Eine von Nowaks Haupttugenden ist ohne Zweifel seine vollkommene Uneitelkeit, sie erleichtert das Geschäft der Camouflage ungemein. Igor aus Lviv, der in Słubice auf irgendwelche Autos aus dem Westen wartet, meint denn auch ein wenig misstrauisch: „Wolodja, du Journalist, aber du fragst wie Spion.“ Das Ich des Berichterstatters tritt fast vollständig hinter die erzählten Geschichten zurück, seine ordnende Hand ist kaum mehr zu erkennen, und doch hält sie hinter den vielen O-Ton-Zitaten und den oft nur andeutend hingetupften Erklärungen alle Fäden in der Hand. Nichts freilich liegt Nowak ferner als irgendwelche Verallgemeinerungen oder dezidierte Werturteile über das, was er erfährt; im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch mit seiner Biografie, und er wird bei Nowak freundlich behandelt. Auch wenn die Geschichten es mitunter schwer machen.

„Wenn ich alles erzählen würde, würde es für ein Buch reichen und die Leute würden lesen und weinen“, sagt Frau Irena, die einmal Ingrid hieß, bevor sie nach Kriegsende als Zweijährige zu einer polnischen Familie kam, und die nun, mit Mitte fünfzig, zum ersten Mal ihrer leiblichen Mutter begegnet. Vieles in Nowaks Buch ist in seiner Grauenhaftigkeit in der Tat mitunter kaum zu ertragen: der fast manische Bericht von Mathias Schenk über die Massaker, die deutsche Soldaten bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands anrichteten und an denen er selbst aktiv beteiligt war, oder der Bericht über die Nacht von Wildenhagen, als die Deutschen in ihrer Angst vor den anrückenden Russen massenhaft in den Tod flohen und die Mütter zuerst ihren Kindern, dann sich selbst einen Strick um den Hals legten.

Nowak erzählt, wie das Abstraktum Geschichte seinen Niederschlag im Schicksal des Einzelnen findet; über das deutsch-polnische Verhältnis jenseits von offiziellem Gedenken und medialer Hysterie; und über den Menschen im harten Kampf, der Leben heißt. Wie etwa die polnischen Taxifahrer, die zu Zeiten, da Polen noch nicht in der EU war, illegale Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland schamlos betrogen. „In dem Fluss Lubsza bei Lubsko stellten sie weiß-rote Pfähle auf, um die Neiße vorzutäuschen. Der Schwarze zahlte, glücklich, bei den Deutschen zu sein, dabei waren es noch dreißig Kilometer bis zur Grenze.“

ANDREAS WIRTHENSOHN

Fotohinweis:Włodzimierz Nowak: „Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale“. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Eichborn Berlin, Berlin 2009, 300 Seiten, 19,95 Euro