Frauen der Nacht

Transsexuelle werden in Neapel nicht geduldet. Einzige Ausnahme: „Le Coccinelle“

VON EMANUELA PIRELLI (TEXT UND FOTOS)

Die Show ist vorbei. Die letzte Darstellerin steht vor der Hochzeitsgesellschaft und ist auf einmal keine bunte Tunte mehr. „Als ich ein Kind war, spielte ich manchmal Mama, mit langen Kleidern und hochhackigen Schuhen“, erzählt sie. Es ist der berühmte letzte Monolog, mit dem sich die Truppe „Le Coccinelle“ traditionsgemäß verabschiedet. Der Moment der Reflexion, so nennen sie es. „Niemand wollte mir glauben, dass ich mich wie eine Frau fühlte“, erklärt die grell Geschminkte. „In meinem Ausweis steht Antonio De Filippo, und es geht mir deswegen schlecht, aber ich muss meine Klappe halten. Der Himmel weiß, was ich erlitten habe. Ein Leben, immer mit dem Rücken zur Wand.“

Bis zu dem Tag, an dem sie ihre Theatergruppe gegründet hat. Antonio erzählt die Geschichte fürs Publikum: „Jeder kam, um uns zu sehen und über uns zu tuscheln. ‚Die Kleine ist so unglaublich hässlich‘, zischelte es im Saal, oder: ‚Sasá ist eine Schönheit.‘ Doch niemand nahm uns als Künstlerinnen ernst.“

Die Coccinelle sind bereit, eine schrille Show abzuziehen. Doch niemals werden sie auf ihren Epilog verzichten. Sie wollen ihr Publikum nicht vergessen lassen, wie sie dahin gekommen sind, wo sie heute stehen, und was sie alles durchleben mussten, um dorthin zu gelangen.

Die Coccinelle haben sich auf dem Strich kennen gelernt. Nach der Show erzählen sie Geschichten aus ihrer Jugend, die sich alle mehr oder weniger ähneln. Antonio, aufgewachsen in einer großen Familie, in der es ihm nicht möglich war, anders als männlich-heterosexuell zu sein, beschloss mit zwölf Jahren, von zu Hause abzuhauen. Auf sich allein gestellt, bringt er sich mit Hilfsarbeiten durch, bis er eines Tages einen relativ sicheren Job als Arbeiter in einer Putzfirma bekommt. Zu dieser Zeit war sein äußeres Erscheinungsbild noch eindeutig männlich.

Als Antonio jedoch, wie schon seit langem erträumt, beginnt, seinen Körper umzuwandeln – ein paar Hormone, ein bisschen Silikon in die Brüste –, da schlägt ihm Neapel die Türen vor der Nase zu. Toleranz für Homosexuelle gibt es unter Umständen, man lebt neben ihnen her, gafft sie an und macht sich über sie lustig, aber man lässt sie meist in Ruhe. Doch bei Transsexuellen hört es mit der tolerierenden Gleichgültigkeit auf. Niemand hier, egal in welchem Bereich, würde jemals einen Transsexuellen beschäftigen. Und selbst wenn – die Übergriffe und Belästigungen der Kollegen wären kaum zu ertragen.

Wenn es heimlich ging, kaufte man Antonios Dienste jedoch gerne. „Es ist eigenartig, wie dieselben Personen, die mir tagsüber die Arbeitsstelle verwehren, nachts in meinem Bett die regelmäßigsten Kunden sind“, sagt sie. Jedenfalls funktionierte dieser Job besser als alle anderen, und es gelang ihr, gut zu verdienen. Antonio erinnert sich auch an schöne Momente aus dieser Zeit. Die Spaziergänge auf dem Weg nach Hause im Morgengrauen mit ihren Kolleginnen und Freundinnen; der Kaffee in der Nähe des Meers vor dem Schlafengehen, wenn der Rest der Welt den Tag beginnt.

So haben sich Gennaro, Sasá, Antonio und Giacinto kennen gelernt, auf der Straße, nach der Arbeit über ihre Träume plaudernd, über ihre Leidenschaft für Theater und die neapolitanische Musik. Eines Tages fingen sie an, Material zusammenzuwerfen, alte Texte, Lieder. Sie beschlossen, eine kleine Varietétheatergruppe zu gründen, benannt nach Antonios großem Vorbild, dem französischen Transsexuellen, der sich Coccinelle nannte – „Marienkäfer“.

Gennaro, Kind des Besitzers des „Salone Margherita“, eines bekannten neapolitanischen Theaters, wollte schon immer Schauspieler werden. Sie hat eine explosive Neigung zur Komik. „Es ist Teil von mir wie meine Arme oder meine Hände.“ Sasá, die Jüngste der Gruppe, mit einer vollen, hybriden Stimme, liebt Musik und Gesang. Antonio die Dramatik.

Anfangs eher ungläubig und mit wenig Vertrauen in sich selbst, erarbeiteten sie ein kleines Repertoire an Kabarettstücken und traditionellen neapolitanischen Liedern. Ihr Debüt feierten die Transsexuellen 1980 auf einem Straßenfest in dem Arbeiterviertel Sanita. Auch wenn am Anfang vielleicht nur Neugierde die Motivation war, wurden die Aufträge immer mehr – und auch die Anfragen anderer Künstler nach einer Zusammenarbeit.

Die Coccinelle waren im Napoli der Achtzigerjahre die ersten Transsexuellen, die sich geoutet haben. Heute haben sie ein breites Publikum aller Altersstufen. Man engagiert sie für Hochzeiten, Taufen und Familienfeste. So treten sie in Restaurants auf, mit improvisierter Technik und nur selten auf einer richtigen Bühne. Durch ihren Erfolg konnten es sich die Coccinelle schon früh leisten, ihre Arbeit auf der Straße aufzugeben. Und nie wieder verkleideten sie sich als Männer.

Ihre Beliebtheit lässt sich vielleicht vor allem durch ihre Texte erklären, die eine Botschaft von Respekt und Offenheit verbreiten. Die Coccinelle wollen der katholischen Hausfrau die Welt um sie herum näher bringen, ihr die Konflikte der Straße erklären, die Prostitution. Sie wollen aber auch ihr persönliches Schicksal zum Ausdruck bringen, das Leiden, diese Weiblichkeit zu spüren und sie dennoch nie leben zu können. Durch die richtige Dosis an Selbstironie und Dramatik gelingt es den Coccinelle immer wieder, das Publikum in ihren Bann zu ziehen.

„Femmine della Notte“, eines von Antonios Liedern, zeigt deutlich die Offenheit der Darbietungen: „Wir sind die Frauen der Nacht, mit einem weinenden Herzen in der Brust, weil diese Brust nicht uns gehört, aber zum Trotz wollen wir sie behalten. Wir, die wir den Respekt verkaufen und dabei schweigen, weil wir nicht sprechen gelernt haben; und ihr, die sauberen Bürgerlichen, seid echte Männer, die nicht den Mut haben, zu sein, was sie sind.“

Vor der Hochzeitsgesellschaft ist Antonio am Ende ihres Monologs angekommen. Ein überraschend hartes Ende: „Für jeden von euch, für alle Neapolitaner und überhaupt alle Leute sind wir einfach nur eine Gruppe von Tunten.“ Dann dreht sie sich abrupt um und geht. Den Applaus wartet sie nicht ab. Doch der kommt umso stärker.

EMANUELA PIRELLI, Jahrgang 1977, lebt als freiberufliche Fotografin in Neapel