Röhrende Schatten

Die Hirsche versammeln sich zum alljährlichen Tête-à-Tête: Noch bis Oktober dauert die Brunftzeit für Rotwild an. Im Duvenstedter Brook legen sich derweil Voyeure auf die Lauer – nicht immer erfolgreich

von LASSE HINRICHS

Wenn die Schatten der Erlen im Duvenstedter Brook länger werden und die untergehende Sonne die Wiesen und das Pfeifengras in dunkles Rot taucht, dann, im Zwielicht der Dämmerung, geht es meistens los.

„Psssst, da hinten“, flüstert Heinz Peper und legt den Finger auf die Lippen. Tatsächlich, etwas hat sich bewegt, da hinten, zwischen den hohen Gräsern am Waldrand: Ein Reh hebt den Kopf. Friedlich käuend stiert es in die Gegend. Dann plötzlich ein Geräusch: Das lange, mächtige Röhren eines Hirsches rollt durch das Gehölz. Das Reh spitzt die Ohren – und verschwindet im dunkelgrünen Dickicht. Langsam trottet nun auch die Karawane um Heinz Peper weiter. Hier gibt es gerade nichts mehr zu sehen.

Zur Zeit ist Brunft. Wie jedes Jahr von Ende August bis Anfang Oktober treibt es dieser Tage die im ganzen Umland verstreuten Hirsche zu den Kahlwild-Rudeln, den weiblichen Tieren, zurück. Instinktsicher folgen manche dem Ruf der Fortpflanzung gar aus dem 25 Kilometer entlegenen Sachsenwald. Und sie kommen nicht allein: Im zweitgrößten Naturschutzgebiet der Stadt Hamburg wimmelt es von Besuchern aus der ganzen Bundesrepublik. Hundertschaften von Wanderern bevölkern das 34 Hektar große Natur-Idyll und stapfen auf kleinen, teilweise asphaltierten Pfaden durch die von Sümpfen und Mooren durchzogene Landschaft, um Zeuge des einzigartigen Schaupiels zu werden.

Die 20-köpfige Gruppe, die der Biologe Heinz Peper (53) an diesem Abend im Auftrag des Naturschutzbundes durch den Brook führt, trägt beige und graue Mäntel und befindet sich großteils jenseits der Lebensmitte. Ausgerüstet mit leistungsstarken Ferngläsern und Spektiven schleicht man durchs Gebüsch. Kurz befällt einen das Gefühl von Voyeurismus, das Gefühl, etwas Unanständiges zu tun.

„Die stärksten Tiere in ganz Norddeutschland leben hier im Naturschutzgebiet“, erklärt Peper. Der Grundstein dafür wurde in der Nazi-Zeit gelegt, als der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann (1900–1969) für sein Privatgehege im Duvenstedter Brook nur die kräftigsten und wohlproportioniertesten Herren-Hirsche aus Ungarn importieren ließ. Aktuell liegt der Bestand bei 120 Stück Rotwild. Die Prachtexemplare unter ihnen können im besten Alter und bei guter Ernährung mächtige 24-Ender werden. Zwei Platzhirsche und fünf bis sieben mögliche Konkurrenten, sagt Peper, sind im Duvenstedter Brook zu Hause. Ihr nächtlicher Ruf hält die Weibchen und Beta-Tiere zusammen und sorgt dafür, dass Nebenbuhler auf Distanz bleiben.

„Die Hirsche erkennen sich an der Stimme.“ An sich schreckt das ab. Nur wenn zwei gleichstarke Gegner aufeinander treffen, kann es zum Kampf um Revier und Rudel kommen. Mit angewinkelten Geweihen krachen die Hirsche dann gegeneinander, sie taktieren, hakeln, schieben – irgendwann gibt der Schwächere auf. Selten enden diese Brunftkämpfe tödlich. Blessuren hingegen sind an der Tagesordnung, erklärt der Biologe, der seit 13 Jahren Führungen für den Nabu macht.

Der Wandergruppe indes bleibt das wahrscheinlich atemberaubende Aufeinandertreffen von Kraft und Potenz verwehrt. Erst auf dem Rückweg erspäht Peper noch eine kleine Gruppe Tiere. Der Blick durch das Fernglas zeigt vier oder fünf äsende gräuliche Schatten nahe eines Knicks. Unmöglich für den Laien zu sagen, ob es sich um Hirsch, Reh oder Kitz handelt. Man starrt in die Dunkelheit. Essentielle Fragen zu Brennweite, Optik und Dämmerungs-Eignung der Spähinstrumente werden erörtert („Ich hab hier ein 8x56er“ – „Ich ein 10x70er, versuch das“). Hilft aber alles nichts. „Es ist reine Glückssache, ob wir welche sehen oder nicht“, machte Heinz Peper fairerweise gleich zu Anfang der vierstündigen Pirsch klar.

Die gleichzeitig die letzte planmäßige Tour des Nabu in diesem Jahr war. Allerdings: Gruppen-Anmeldungen nimmt der Naturschutzbund noch entgegen. Zudem startet am 29. Oktober um 15 Uhr noch eine Führung zur Dammwildbrunft. Treffpunkt ist das Nabu-Infohaus am Duvenstedter Triftweg 140, Kontakt: ☎ 040/607 24 66.