Keine Seele darf entkommen

Der Verdacht liegt nahe, dass die CIA Niznansky vor Nachstellungen aus dem Ostblock schützte

AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG

Als Ladislav Niznansky sein Todesurteil bekam, brach er nicht zusammen. Er saß regungslos auf seinem Stuhl, wurde leichenblass und sagte kein Wort. Hanus Hajek kann sich sehr gut an diesen Moment erinnern, obwohl es fast 42 Jahre zurückliegt. Er stand neben Niznansky, als der den Brief öffnete, damals, im November 1962, in ihrem gemeinsamen Büro unweit des Englischen Gartens in München.

Das Schreiben war aus dem tschechoslowakischen Banska Bystrica eingetroffen. Dort hatte ein Bezirksgericht befunden, dass der frühere slowakische Staatsbürger Ladislav Niznansky, geboren 1918, eines furchtbaren Verbrechens schuldig sei: Als Kommandant der slowakischen Abteilung in der Einheit „Edelweiß“, die im Auftrag der deutschen Wehrmacht Jagd auf Partisanen machte, soll er im Januar und Februar 1945 in den Orten Ostry Grun, Klak und Ksina die Ermordung von 164 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, befehligt haben. Das Gericht in Banska Bystrica verurteilte ihn dafür zum Tod durch den Strang.

Das Urteil wurde nie vollstreckt. Doch ab übermorgen muss sich Ladislav Nisnansky, nunmehr 86, vor einem Gericht in München verantworten. Die Vorwürfe sind beinahe dieselben, sie sind nur noch ein bisschen schlimmer geworden.

1962 entging Niznansky dem Galgen, weil er sich längst auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befand. Er arbeitete bereits seit acht Jahren für den in Richtung Osten funkenden US-Propagandasender Radio Free Europe, zunächst als Reporter in Österreich, dann in der Münchner Zentrale als stellvertretender Leiter jener Sektion, die sich im Sender mit der ČSSR befasste. Sein Vorgesetzter war der Tscheche Hanus Hajek.

Hajek, heute 84 Jahre alt, lebt in einer Dreizimmerwohnung im gutbürgerlichen Münchner Stadtteil Gern. Er ist Jude, seine Eltern wurden von den Nazis ermordet. „Sie können mir glauben“, sagt er milde lächelnd, „dass ich keine besondere Toleranz gegenüber Kriegsverbrechern besitze.“ Dennoch glaubte er 1962 keine Sekunde lang an die Schuld seines Untergebenen Niznansky: „Es war ein Schauprozess, völlig unglaubwürdige, wüste Propaganda.“

Nun war Radio Free Europe zu Hochzeiten des Kalten Krieges ein Ort, an dem grundsätzlich alles bezweifelt wurde, was von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs kam. Doch andererseits war Hajek durch seinen Beruf besser über den damaligen Prozess informiert als jeder andere im Westen: „Wir bekamen damals etwa 200 tschechoslowakische Zeitungen und Zeitschriften zur Auswertung, außerdem ein Monitoring über alles, was die ČSSR-Radiostationen sendeten. Ich habe nichts gelesen, was mich von seiner Schuld überzeugt hätte – sonst hätte ich ihn nie behalten.“ So blieb Niznansky bis zu seiner Pensionierung 1983 bei Radio Free Europe und erhielt 1996 die deutsche Staatsbürgerschaft.

Doch Anfang 2001 meldeten sich slowakische Behörden bei der Münchner Staatsanwaltschaft, um in den folgenden Jahren reichlich Beweise und Zeugenaussagen von Überlebenden der Massaker im Januar und Februar 1945 zu liefern. Der Fall wurde neu aufgerollt. Am frühen Morgen des 16. Januar 2004, fast auf den Tag genau 59 Jahre nach den Gräueltaten, klingelten Polizeibeamte an der Haustür von Ladislav Niznansky in München-Neuperlach, um ihm einen Haftbefehl zu präsentieren. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft.

Neben den Erinnerungen der Überlebenden belastet ihn vor allen Dingen die Aussage des Zeugen Jan Repasky, der einst selbst zur „Edelweiß“-Einheit gehörte und deshalb in der ČSSR acht Jahre im Gefängnis saß. Der heute 78-Jährige erklärte bereits 1962, dass sein Kommandant Niznansky den Befehl ausgegeben habe, dass aus den Dörfern „keine lebendige Seele entkommen“ dürfe. Bei einer Vernehmung 2001 fügte er hinzu, er habe gesehen, wie Niznansky in Ostry Grun eigenhändig etwa 20 Menschen mit seiner Maschinenpistole erschossen habe. Anschließend soll er an ausgewählte Männer Auszeichnungen verliehen haben.

Hanus Hajek kann diese Vorwürfe bis heute nicht glauben: „Er hat mir gesagt, dass sie zwei Dörfer in Brand gesteckt haben, die leer waren. Und dass sie die Gegenseite, die Partisanen, vor ihren Einsätzen informiert haben, wohin sie gehen.“ Laut Hajek beteiligte sich Niznansky 1944 zunächst am slowakischen Nationalaufstand gegen die Deutschen, die das Land als Satellitenstaat verwalteten. Als er in Gefangenschaft geriet, zwangen ihn die Nazis, auf ihrer Seite im Bataillon „Edelweiß“ zu kämpfen. Es war nicht das letzte Mal, dass Niznansky die Fronten wechselte. Nachdem er 1946 in einem ersten Prozess wegen seiner „Edelweiß“-Beteiligung aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, schickte ihn der tschechoslowakische Geheimdienst im Oktober 1947 als Agenten nach Wien – das belegen zumindest CIA-Dokumente, die der Focus einsehen konnte. Dort aber wechselte Niznansky schnell auf die Seite der USA und wirkte fortan als Doppelagent. Das trug ihm einige Belobigungen ein – wahrscheinlich auch den Job bei Radio Free Europe. Denn dort, erinnert sich Hanus Hajek, „war es üblich, ehemalige US-Agenten einzustellen“. Die CIA finanzierte den Sender bis in die Achtzigerjahre hinein. Allerdings gesteht Hajek seinem ehemaligen Kollegen auch weitere Qualifikationen zu: „Er sprach gut Englisch, konnte gut analysieren, war arbeitsam und fleißig.“

Doch Niznanskys Tätigkeit für US-Geheimdienste und sein Job bei Radio Free Europe geben dem möglicherweise letzten großen Kriegsverbrecherprozess in Deutschland eine besondere Dimension. Der Verdacht liegt nahe, dass die CIA ihren verdienten Mitarbeiter vor Nachstellungen aus dem Ostblock schützte, auch wenn es dabei um Kriegsverbrechen ging. Im Gegensatz zu Hajek wurde die Münchner Staatsanwaltschaft 1962 angesichts des Urteils aus Banska Bystrica durchaus hellhörig und ermittelte gegen Niznansky. 1965 wurde das Verfahren aber ohne Ergebnis eingestellt – was verwundert, weil die belastenden Erklärungen von Jan Repasky ebenso bekannt gewesen sein müssen wie ein Vernehmungsprotokoll des 1945 hingerichteten „Edelweiß“-Kommandeurs Erwein Graf Thun-Hohenstein, in dem es heißt: „Niznansky […] gehörte seit dem November 1944 zur Abwehrgruppe 218. Dort war er Kommandant der slowakischen Einheit und nahm einige Male an Aktionen gegen Partisanen teil.“ Doch bei der Münchner Staatsanwaltschaft verweist man bis heute auf die damals mangelnde Kooperation der slowakischen Behörden, die zu wenig Beweismaterial lieferten.

Experten wie der US-Publizistikprofessor Christopher Simpson halten es dagegen für wahrscheinlich, dass die CIA allzu tief gehende Nachforschungen verhinderte. In seinem 1988 erschienenen Buch „Der amerikanische Bumerang – NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA“ beschreibt er Niznanskys Karriere bei Radio Free Europe als typisch für die Zeit des Kalten Krieges: „Leute, die während der NS-Zeit eine wichtige Rolle gespielt haben, wurden von westlichen Geheimdiensten benutzt und gedeckt, wenn sie nützlich waren.“ Fragt man heute bei Josef Spetko nach, der ebenfalls mit Niznansky beim Radio zusammenarbeitete, wehrt der schon am Telefon ab: „Ich kann dazu gar nichts sagen, das hat alles die CIA gemacht.“

Eine wichtige Rolle spielte zudem die extreme Konfrontation zwischen Ost und West, die das Klima beim Frontsender Radio Free Europe prägte und alles andere überlagerte. Hanus Hajek erzählt heute offen, dass nicht wenige Mitarbeiter im international besetzten Sender rechtsextreme Ansichten pflegten – etwa jene slowakischen Separatisten, die im Zweiten Weltkrieg aufseiten der Deutschen standen. „Am ärgsten“, sagt Hajek, „waren aber die Rumänen, die haben sich privat teilweise offen als Faschisten zu erkennen gegeben.“

An einem wie Niznansky, der überall im Sender den Spitznamen „Edelweiß“ trug, störte sich da kaum jemand. Die Kommunisten als gemeinsamer Feind einten alle – und so glaubt Hajek, heute US-Bürger, immer noch, dass hinter dem Todesurteil aus Banska Bystrica ganz andere Gründe steckten: „Niznansky war Agent der Amerikaner und hat bei uns im Sender gearbeitet. Da war er für die Tschechoslowaken gleich ein doppelter Verräter. Kein Wunder, dass er den Strang bekam.“

Dabei ist Hajek keineswegs ein ewiger Kalter Krieger, der in den Stereotypen jener Zeit stecken geblieben ist: „Ich habe 20 Jahre mit Niznansky in einem Büro gesessen, aber wir haben uns immer gesiezt. Was in ihm wirklich ist, kann ich nicht sagen. Ich hätte auch die ganze Zeit neben Eichmann arbeiten können, der wäre auch ein korrekter Arbeiter gewesen, und ich hätte nicht in ihn hineingesehen und bemerkt, wer er wirklich ist.“

Verblüffend ist allerdings der Schluss, den der kluge Kopf Hajek, der einst Philosophie studierte, daraus zieht: „Meiner Meinung nach ist es so oder so zu spät, mit der Sache zu kommen – da haben sie einen erwischt, der ein halbes Jahr auf der falschen Seite stand, und danach mindestens 30 Jahre auf der richtigen.“ Abgesehen davon findet er, „dass Niznansky genug bestraft ist. Der hatte den Galgen immer im Kopf. Sein Leben lang hat der Angst gehabt, dass er irgendwann doch noch verhaftet und ausgeliefert wird.“ Schon deshalb beantragte Niznansky nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch als 75-Jähriger die deutsche Staatsbürgerschaft. Vor dem Gefängnis konnte die ihn am Ende auch nicht bewahren.