Spiel’s noch einmal, Mark

Ein Comeback, auf das niemand gewartet hat: Ohne Larmoyanz strahlt aus dem neuen Album der britischen Technopioniere LFO die Sehnsucht nach dem Dreck und dem Beat der frühen Tage

Diese Musik triggert Erinnerungen an Nächte des Exzesses und der Freude an

von UH-YOUNG KIM

Die Lehrerin ist weggesperrt. Auf dem Schulhof rocken asiatische Mädchen in Uniform zu dreckigem Techno ab. Ihre Körper zucken und schweben zwischen Plattenbauten und Stahlgittern. Mit einer Karambolage infernaler Beats verwandeln sich Unschuldsmienen in böse Fratzen. Dazu wiederholt eine Roboterstimme die infektiöse Wirkung der zum Clip gehörigen Musik: „This is going to make you freak.“

Vertraut meldet sich LFO über den Vocoder zurück. Schon 1991 erklang hieraus ein terminatorhaftes „We Are Back“, nun also der Dekaden verschweißende Titel „Freak“ als Vorbote des ersten LFO-Albums seit sieben Jahren. Auf „Sheath“ (Warp/Zomba) scheint Produzent Mark Bell alles in Erinnerungen getränkt zu haben, ohne jedoch das nächste Revival anzuführen. Denn Bell war nie totgesagt. Und sein Sound schiebt und zerrt mehr denn je im roten Bereich.

Auch Daniel Levi, Regisseur des Videos, blickt zurück, indem er – neben dem japanischen Horrorfilm – die Bildsprache von Chris Cunningham zitiert. Das Enfant terrible unter Englands Filmemachern setzte Mitte der Neunzigerjahre die Starwerdung jener Nerds in Szene, die in ihrem Kinderzimmer Musik am Computer produzierten. Levis Video aber ist mehr als eine Hommage in bullettime an den Aphex-Twin-Clip „Come To Daddy“. Es verlegt den Ursprungsmythos des englischen Autorentechno in das repressive Setting einer chinesischen Metropole – fernab der übersättigten westlichen Städte, wo exzessives Feiern noch eine subversive Haltung symbolisieren kann.

Am Anfang legt ein Mädchen die Kassette mit dem diabolischen Track in den Schulrekorder ein. Sie steht für den DJ, der eine Lagerhalle in Leeds mit LFOs selbst betitelter Ravehymne direkt vom Demotape beschallte. Der Legende nach wurden in dieser Nacht von 1990 die Macher des frisch gegründeten Plattenlabels Warp auf das damalige Duo aufmerksam.

Aus den dystopischen Brachen der nordenglischen Stahlindustrie erklang damals eine Maschinenmusik, die in verlassenen Lagerhallen den idealen Resonanzraum für detonierende Bässe, Synthesizerschauer und außerirdische Signale fand. Die Nachfrage nach diesem brachialen Stück Eskapismus war offensichtlich groß in den letzten Tagen der Thatcher-Ära. Mit 130.000 verkauften Exemplaren landete es auf Platz 12 der englischen Charts.

Ironischerweise wurden so zwei Zwanzigjährige, die sich programmatisch hinter der Bezeichnung der elektronischen Komponente „Low Frequency Oscillation“ versteckten, zu einem der ersten englischen Techno-Acts, die als Künstlersubjekte vermarktet wurden. Statt kurzlebiger und anonymer Lochcovermaxis brachten sie mit dem Album „Frequencies“ den ersten Klassiker europäischen Technos heraus: eine daheim produzierte Synthese aus dem Einfluss englischer Industrial- und Synthpopmusik auf amerikanischen Electro und Detroit Techno.

Die Befreiung von dem Authentizitätsanspruch des Künstlersubjekts galt bis dahin als eine Errungenschaft der Technokultur. Anfang der Neunziger wich sie kampflos den Gesetzen des Marktes. Warp trat mit LFO die Heiminvasion elektronischer Musik an. Seitdem tendiert die Zahl von Acts, die sich nach elektronischen Geräten benennen, gegen null. Bevorzugt wird seit längerem schon der bürgerliche Name. Auch sonst hat sich einiges geändert: Die letzten Fabrikhallen, in denen getanzt wurde, weichen Investorenplänen, Ecstasy ist das Soma von gestern, und die Raving Society gleicht mehr und mehr einem die Herrschaftverhältnisse reproduzierenden Beamtenstaat.

Nun regt sich die Keimzelle aller bedroom-Produzenten wieder – ein Comeback, auf das kaum jemand gewartet hat. Doch Mark Bell kann sich sicher sein, dass er nicht als Rolling Stone elektronischer Lebensaspekte enden wird. Während sich die Kollegen musikalisch zunehmend in öden Verfeinerungen an Plug-ins aufhielten, hat er den Sprung aus dem Elektronikstall geschafft. Er kleidete Björk in die filigran verzerrten Soundgewänder von „Homogenic“ und produzierte den Soundtrack zu „Dancer In The Dark“. Auch Depeche Mode hat er mit dem elektro-akustischen Album „Exciter“ „an einen anderen Ort gebracht“, wie Sänger Dave Gahan sagt. Beide engagierten ihn wegen seiner Fähigkeit, Atmosphären und Klänge, die er imaginiert, innerhalb von Minuten aus dem Computer zu zaubern.

Auf „Sheath“ hat Mark Bell eine Sammlung von Tracks der letzten sechs Jahre zusammengestellt – eine Ewigkeit in den beschleunigten Veröffentlichungszyklen der elektronischen Dance Music. Dafür ist es nicht nur ein Album zum Durchhören geworden, sondern wieder ein Blueprint für einige Spielarten elektronischer Musik. Umrahmt von melancholischem Ambient reicht der Spannungsbogen von mikroskopischer Elektronika, über zerschredderten Post-Industrial bis zu zähnefletschendem Techno der transatlantischen Sorte.

Dabei sind es die epischen Flächen, der analoge Schmutz zwischen den Reglern des Mischpults und die rohe, aber kontrollierte Energie der Tracks, die auf „Sheath“ Erinnerungen an Nächte des Exzesses und der Freude antriggern. Ja, sogar wenn man nie dabei gewesen ist, oder noch nie von Techno gehört hat, flackert die Sehnsucht nach diesem dunklen, hallenden Ort auf, an dem der endlose Beat pulsiert.