Der griechische Way of Life

Altertumsforscher der Ruhr-Universität Bochum machen erstaunliche Entdeckungen auf Sizilien. Auf der Mittelmeerinsel finden sie zurzeit 100.000 antike Scherben pro Hektar – ein Beweis für die dichte Besiedelung vor mehr als 2.000 Jahren

von HOLGER ELFES

Niemand hat das Bild des Archäologen so geprägt wie Heinrich von Schliemann. Mit Schippe und Schaufel buddelte er sich durch das Erdreich von Mykene und Troja auf der Suche nach antiken Schätzen. Dass er mit seinen „robusten Methoden“, die zwar einen schnellen Grabungsfortschritt brachten, aber auch irreparable Schäden in den Ausgrabungsstätten anrichtete, wird bei der Mystifizierung des deutschen Ur-Archäologen gerne mal vergessen. Dass es ähnlich schnell, dabei aber sehr viel sanfter auch funktionieren kann, beweisen Archäologen aus dem Ruhrgebiet zur Zeit auf Sizilien.

„Wir haben den Survey zwar nicht erfunden, aber er ist doch ein wenig das Markenzeichen der Bochumer Archäologie“, sagt Prof. Dr. Johannes Bergemann. Survey, verrät ein Blick in das Englisch-Wörterbuch, heißt so viel wie Übersicht, und genau das verschafft diese relativ neue Methode, die sich seit den 1970er Jahren langsam bei den Altertumsforschern etabliert hat. Mit klassischen Ausgrabungen hat der Survey nicht mehr viel gemein. Der Spaten gehört dabei nicht zum Handwerkzeug. Die Erde wird nicht bewegt, der Archäologe beschränkt sich auf Funde an der Oberfläche.

Und das ist nicht gerade wenig, erzählt Bergemann: „Bis zu 10.000 Scherben finden wir auf einer Parzelle von hundert mal hundert Metern.“ Kleinste Keramiksplitter sind darunter, aber auch größere Stücke, die sich mitunter gar zu einem kompletten Gefäß zusammensetzen lassen. Unglaublich, so möchte der archäologische Laie denken, dass sich so etwas auch nach Jahrtausenden noch an der Oberfläche finden lässt. Für den Fachmann ist das jedoch ganz normal. Geschichte lagert sich schließlich in Schichten im Boden ab, von den Faustkeilen auf der untersten „Etage“ bis hin zur Coladose ganz oben. Im Prinzip – wären da nicht die natürlichen und vom Menschen verursachten Bewegungen im Erdreich. „Es gibt immer Bewegung“, so Bergemann, „durch das Umpflügen des Ackers etwa oder durch abfließendes Wasser nach dem Regen an Hanglagen.“ Kein Wunder also, dass die Bochumer Archäologen auf dem selben Stückchen Land mitunter Objekte aus mehreren Jahrtausenden finden.

Die auf die Insel ausgewanderten sizilianischen Griechen lebten offenbar bequemer als ihre mutterländischen Landsleute. In ihrer Koloniestadt Gela an der sizilianischen Südküste und in deren Umland, wo die Archäologen von der Ruhr-Universität suchen, hatten sie viel Platz, ohne mit den Einheimischen in Konflikt zu geraten. So ein Zwischenergebnis der von 2002 bis 2006 laufenden Arbeiten. Die Funde reichen bis ins 7. Jahrhundert vor Christus zurück, die Gründungszeit der Stadt Gela. Diese gehört zwar nicht zu den berühmtesten griechischen Kolonien wie Agrigent oder Selinunt, war seinerzeit aber dennoch ein bedeutender Ort. Um die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. dominierte sie den südöstlichen Teil der Insel bis hinauf nach Catania. Der Tragödiendichter Aischylos starb in Gela und wurde auf Staatskosten begraben. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts ging die Stadt unter. Die Archäologen durchstreifen systematisch die Umgebung der Stadt nach Fundstellen. Eine erste überraschende Erkenntnis war dabei, dass diese ländlichen Gegenden sehr viel dichter bevölkert waren als man zuvor annehmen konnte. Alle 300 bis 500 Meter stießen die Bochumer Archäologen auf Hinweise, die die Existenz eines Bauernhofs belegen. Von der doch recht beschränkten Fläche drum herum lebte die ganze Familie. Sogar Überschüsse, die einen gewissen Luxus erlaubten, konnten auf den fruchtbaren Äckern mit modernsten griechischen Landwirtschaftstechniken erwirtschaftet werden. Dies belegen beispielsweise die gefundenen Fragmente feiner Trinkgefäße. „Für die Griechen waren das übrigens gar keine so kleinen Flächen, in ihrer Heimat waren die Parzellen noch winziger“, weiß Bergemann.

Eben dieser Bevölkerungsdruck veranlasste die antiken Hellenen schließlich auch, in die Nachbargebiete auszuwandern. Besonders beliebt war der nicht weit entfernte süditalienische Raum. Eine Kolonisierung, die im wesentlichen friedlich vor sich ging, da man sich mit der einheimischen Bevölkerung arrangierte. Die dort lebenden Sikaner oder Sikeler, wie sie in den ersten schriftlichen Überlieferungen genannt werden, gaben der Insel ihren Namen. Sie profitierten ebenso vom aus Hellas importierten zivilisatorischen Fortschritt wie die Griechen vom reichlich vorhandenen Land auf der größten Mittelmeerinsel. Sie gründeten Gehöfte auf den Höhen des hügeligen und zugleich wasserreichen Hinterlandes: Das beweisen Funde zahlreicher Dachziegel, Webgewichte, Fragmente von Getreidemühlen, Fein- und Grobkeramik. „Terrassenwirtschaft, wie sie in Attika üblich war, haben wir bisher gar nicht feststellen können“, so Bergemann.

Ausgesprochen schnell verlief auch der Zuzug der Griechen. Um 750 vor Christus begann er und war schon nach ein bis zwei Generationen flächendeckend fortgeschritten. Auch dafür ist Gela und Umgebung ein Beleg. Hat sich dort doch schon um das Jahr 700 der griechische „way of life“ durchgesetzt. Davon zeugen Funde von Krateren, Gefäßen für die Abhaltung von Trinkgelagen. Um 600 schließlich bauen auch die Einheimischen bereits Städte im griechischen Stil. Zu untersuchen bleibt noch eine Riesenfläche. Insgesamt 200 Quadratkilometer Land haben die zuständigen Behörden den Bochumern zugewiesen.