Nach der Utopie

Durch das Verbot der Kinderarbeit haben sich die Arbeitsbedingungen der arbeitenden Mädchen und Jungen in Nicaragua häufig nur verschlechtert. Die Kinder selbst wollen vor allem eins: neben der Arbeit zur Schule gehen

von ANNETTE JENSEN

Uanda Wetes’ Arbeitstag beginnt morgens um sechs. Dann schleppt die Zehnjährige zusammen mit ihrer Chefin Körbe voll Bananen und Salat zum klapprigen Marktstand. Nebenan fahren schon die ersten Überlandbusse laut hupend los: Kinder, Frauen und Männer drängen noch schnell hinein, um den Reisenden Eiswasser, Kekse, Tortillas und Uhren anzubieten.

Nachdem Uanda die Waren aufgebaut hat, füllt sie Tomaten und Mandarinen in Beutel – immer zehn Stück. Vor allem aber hat sie die Aufgabe, ein Auge auf die Kunden zu halten, damit die nicht einfach ein paar Früchte mitgehen lassen. „Ich finde meine Arbeit gut“, sagt das Mädchen, das ein ausgewaschenes T-Shirt und Badelatschen trägt. „Meine Chefin ist nett. Sie schlägt mich nicht und gibt mir manchmal frei, wenn nichts los ist“, erzählt Uanda. Auch ihre Chefin, eine Frau mittleren Alters, die Uanda schon seit früher Kindheit kennt, ist sehr zufrieden mit ihrer Angestellten. Sie bedauert, dass sie ihr keinen höheren Lohn zahlen kann; aber mehr werfe der Stand nun einmal nicht ab.

Zehn Cordobas, etwa 65 Cent – und damit etwa den Preis für ein Kilo getrocknete Bohnen, zweieinhalb Schulhefte oder eine Wassermelone, erhält Uanda, als sie um elf Uhr den Stand verlässt. „Ich kaufe meine Schuhe, Stifte und Hefte selbst“, erklärt sie stolz. Der Verdienst ihrer Mutter, die gekochtes Huhn und Tortillas auf dem Markt anbietet, reicht nicht aus, um sich und ihre drei Kinder durchzubringen; ambulante Lebensmittelhändler erwirtschaften in Nicaragua durchschnittlich vierzig bis fünfzig Cordobas am Tag.

Bevor Uanda um zwölf Uhr zur Schule geht – wie an vielen Orten Nicaraguas gibt es für arbeitende Kinder Nachmittagsunterricht –, guckt sie im „Club infantil“ vorbei, wo sie immer ein paar andere Kinder vom Markt und mindestens einen Erwachsen antrifft. Wer Lust hat, kann mit ihm Buchstaben- oder Rechenspiel spielen – oder einfach nur Quatsch machen. Morgens, wenn es auf dem Markt ruhiger ist und das Geschäft sowieso schleppend läuft, findet auch ein Lese- und Schreibkurs statt.

Seit einem Jahr besucht Uanda eine richtige Schule im Zentrum der Stadt. Die Mitarbeiter vom Club infantil haben durchgesetzt, dass sie weder die zehn Cordobas monatliches Schulgeld zahlen muss noch Extragebühren für Prüfungen, Kopien und das Wasser für die Klospülung. „Ich möchte später mal Lehrerin werden“, sagt Uanda. Ihre Mutter ist Analphabetin.

Uanda hat Glück – verglichen mit vielen anderen arbeitenden Kindern in Nicaragua. Der Kontakt zum Hilfsprojekt Tuktan Sirpi, das den Club infantil mit finanzieller Unterstützung von Terres des Hommes betreibt, gibt ihr immerhin die Chance auf eine Ausbildung. Und sie arbeitet „nur“ fünf Stunden am Tag, während fast ein Viertel der Kinder zwischen sieben und neun Stunden beschäftigt ist. Das geht aus einer Untersuchung hervor, die Tuktan Sipri Ende vergangenen Jahres nach einer intensiven Befragung von knapp sechshundert arbeitenden Kindern veröffentlicht hat. Fast zwanzig Prozent gaben an, sogar zehn bis zwölf Stunden zu schuften, und fünf Prozent arbeiteten noch länger – bei einer Siebentagewoche.

Dabei ist Kinderarbeit in Nicaragua offiziell verboten. Das Land hat die beiden Übereinkommen der internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ratifiziert, deren erklärtes Ziel die Abschaffung von Kinderarbeit ist. Ein bereits 1973 ausgehandelter internationaler Vertrag verbietet die Zulassung zur Arbeit von Menschen unter fünfzehn Jahren; für Entwicklungsländer gibt es Öffnungsklauseln bis zum vierzehnten Lebensjahr und bei leichten Arbeiten bis zum zwölften Lebensjahr. 1999 wurden zusätzliche Maßnahmen gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit wie Sklaverei und Prostitution vereinbart – Formen, die seither die öffentliche Wahrnehmung des Themas prägen.

„Die IAO-Normen sind doch eine Utopie. Die Kinder hier müssen arbeiten, weil sie sonst nicht überleben“, kritisiert Lydia Palacios, Leiterin der Projekts Tuktan Sipri. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in der Region ist jünger als achtzehn, 73 Prozent der Menschen leben in extremer Armut und müssen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Erst in letzter Zeit hat die Kaffeekrise mit extrem niedrigen Rohstoffpreisen wieder viele Erntearbeiterfamilien in die Fünfzigtausendeinwohnerstadt Jinotega getrieben und die Situation weiter verschärft: Immer mehr Händler teilen sich eine immer geringere Kaufkraft. Die Zahl der betrieblichen Arbeitsplätze schwindet, die Kriminalität wächst.

Ein generelles Verbot von Kinderarbeit entspräche keineswegs dem Bedürfnis vieler Mädchen und Jungen, sagt Lydia Palacios und beruft sich dabei sowohl auf zahlreiche persönliche Gespräche als auch die repräsentative Befragung. Sinnvoller sei es, Kinderarbeit so umzugestalten, dass die Jungen und Mädchen sie körperlich und seelisch bewältigen können und ihnen auch noch ein bisschen freie Zeit bleibt. Außerdem müsse verhindert werden, dass Polizisten oder erwachsene Verkäufer die Kinder schlagen und vertreiben. Deshalb investieren die Erzieher im Club infantil einen erheblichen Teil ihrer Zeit darauf, die jungen Händler über ihre Rechte aufzuklären.

Eine der Sprecherinnen der Kinder vom Club infantil ist die dreizehnjährige Kenia Chavarria, die Privathaushalte mit Wasserkanistern beliefert. Das dünne Mädchen mit dem ernsten Gesicht könnte von ihrer Statur her glatt als Acht- oder Neunjährige durchgehen. Viele der arbeitenden Kindern auf dem Markt von Jinotega sind unterernährt; die Untersuchung hat ergeben, dass die meisten von ihnen nur zu Hause vor und nach der Arbeit etwas essen – obwohl mehr als die Hälfte von ihnen über sieben Stunden auf dem Markt unterwegs sind.

Kenia Chavarrita war schon mit einer Delegation auf nicaraguaweiten Treffen in Managua, um dort die Interessen der arbeitenden Kinder zu diskutieren. „Für mich am wichtigsten“, erklärt sie mit monotoner Stimme, „ist die Forderung nach kostenloser Schulbildung für alle.“ Eine Position, die auch viele Mädchen und Jungen außerhalb der Hilfsprojekte äußern.

Die tägliche Lebenserfahrung der Kinder in Nicaragua bestätigt die Einschätzung der IAO: „So wie Kinderarbeit unauflösbar mit Armut verbunden ist, so ist ihre wirksame Beseitigung unauflösbar an Bildung gebunden.“ In dieser Beziehung hat es in Nicaragua in den vergangenen Jahren allerdings sehr viele Rückschritte gegeben. Experten schätzen, dass das nach der sandinistischen Revolution Anfang der Achtzigerjahre fast vollständig alphabetisierte Land inzwischen wieder bei 35 Prozent Lese- und Schreibunkundigen angekommen ist; selbst der offizielle Wert der Regierung liegt bei 21 Prozent.

Viele arbeitende Kinder sind unsichtbar. Beim Straßenbau oder in großen Firmen trifft man in Nicaragua keine Kinder an. Doch möglicherweise sind die Kinder hier auch nur unsichtbarer als die jungen Verkäufer, Schuhputzer, Müllsammler und Autoscheibenputzer in den Straßen und auf den Märkten. Nicht auszuschließen ist jedenfalls, dass sich das Arbeitsverbot in einigen Unternehmen ähnlich zum Nachteil der Kinder auswirkt, wie es in der Landwirtschaft zu beobachten ist.

„Das Arbeitsministerium erlegt Plantagenbesitzern Geldstrafen auf, wenn sie Kinder beschäftigen“, erläutert die Sozialarbeiterin Vicenta Membreno von der Menschenrechtsorganisation Impru in Managua. Deshalb tauchen Kinder auf den offiziellen Lohnlisten der Fincabesitzer nicht auf – obwohl ein erheblicher Teil der Kaffeeernte von ihnen geleistet wird. Die Folgen: Zum einen bekommen die Jungen und Mädchen ihren Lohn nicht selbst ausgezahlt. Und zudem sparen die Fincabesitzer das Geld für die Mahlzeiten der mitarbeitenden Kinder. Weil offiziell nur die Erwachsenen pflücken, bekommen auch nur sie das warme Mittagessen, das Teil des offiziellen Lohns ist.

„Ich bin ja im Prinzip mit den IAO-Normen gegen Kinderarbeit völlig einverstanden“, sagt Vicenta Membreno. Doch zugleich warnt sie vor Augenwischerei zur Beruhigung der internationalen Öffentlichkeit und auf Kosten der Kinder. Als weiteres Beispiel für verdeckte Kinderarbeit führt sie die Mädchen an, die als Haushaltshilfen manchmal bis zu sechzehn Stunden am Tag bügeln, waschen, putzen und auf Kinder aufpassen müssten. Viele von ihnen seien nicht älter als zehn und bekämen außer Kost und Logis nur etwa dreißig Cordobas am Ende des Monats. Zur Schule gehen können die meisten von ihnen nicht. Offiziell werden sie als „Töchter des Hauses“ bezeichnet, die Ausbeutung bleibt nach außen unsichtbar – genau wie die Kinderprostitution, die nach Expertenmeinung auch in Nicaragua deutlich zugenommen hat.

Die IAO räumt inzwischen ein, dass die lange Zeit vordringlich betriebene Verankerung eines Kinderarbeitsverbots in den nationalen Gesetzbüchern noch nicht die Lösung des Problems darstellt. Es gibt „keine Blaupausen oder in allen Fällen anwendbare Patentrezepte“, heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 2002. Und: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Kinder selbst mehr als bisher einzubeziehen sind, wenn Aktionen alle Bedürfnisse und alle Rechte der Kinder ansprechen sollen.“

ANNETTE JENSEN, früher taz-Öwi-Redakteurin, lebt als freie Journalistin in Berlin