Wovor hat Otto Schily Angst?

Der Innenminister zählte noch in den Siebzigern zu den Verteidigern des Rechtsstaats – als vermeintlicher RAF-Anwalt. Mitte der Achtziger lehnte er jeden „Dialog“ mit den Terroristen ab und wurde zum Hardliner

von STEFAN REINECKE

1998, als Otto Schily Innenminister wird, wundern sich viele Journalisten, wie barsch der Minister ihre Fragen nach der RAF abfertigt, sich gebetsmühlenhaft auf die „anwaltliche Schweigepflicht“ beruft und zum nächsten Thema übergeht. Doch dass Otto Schily von Stammheim nichts mehr wissen will, ist nicht neu. Ihn hat nur lange niemand mehr gefragt.

1984, vierzehn Jahre vorher, sitzen die grünen Realos wie oft abends bei Bier und Wein in der „Provinz“ in Bonn. Wenn das Gespräch mal auf die RAF kommt, richten sich die Augen auf einen, der am Tisch sehr still wird: Otto Schily. Stammheim hat ihn berühmt gemacht, nun klebt das Etikett „RAF-Anwalt“ an ihm wie ein Stigma. Mit diesem Image kann er nichts werden – und Schily will etwas werden. „Er wollte darüber nicht reden. Auch nicht unter vier Augen“, so ein Realo.

Nach dem Deutschen Herbst hat Schily sich aus den politischen Prozessen zurückgezogen. Im Winter 1977 tritt er noch auf ein paar Diskussionsveranstaltungen zu Stammheim auf, auf denen die Mord- und Selbstmordthese ventiliert wird, die damals bei Linksradikalen zu einer hart umkämpften Glaubensfrage wird. 1978 erscheint er auf dem unter anderem von seinem Studienfreund Uwe Wesel initiierten Russell-Tribunal „Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland“, das von manchen Liberalen und Sozialdemokraten als Propagandashow kritisiert wird. Dort greift Schily noch einmal die Prozessführung gegen die RAF an: die illegale Abhöraktion in Stammheim, die „isolierenden Haftbedingungen“ und die „massiven Vorverurteilungen, mit denen das Stammheimer Verfahren präjudiziert worden ist“. (Schily)

Im April 1981 hungert sich Sigurd Debus, 21 Jahre alt, zu Tode. Debus sitzt in Hamburg im Normalvollzug ein und wird zwangsernährt. Er hungert nicht, um selbst bessere Haftbedingungen zu erreichen, sondern aus Solidarität mit seinen RAF-Genossen in den Hochsicherheitstrakten. Debus ist nicht so bekannt wie Holger Meins, sein Tod ist noch furchtbarer.

Debus’ Tod verschärft wieder mal die Debatte um Haftbedingungen. Sie kreist um die Frage: Soll man die RAF-Forderung nach Zusammenlegung in größeren Gruppen unterstützen – oder betreibt man damit die Propaganda der RAF? Sind die Haftbedingungen legitimer Selbstschutz des Staates – oder Repression? Viele Rechte meinen, dass die RAF-Gefangenen, die sich nicht vom Terror distanzieren, selbst schuld sind, dass der Staat sie isolieren muss.

Schily widerspricht dem vehement und differenziert: Am 16. April 1981 sagt er in einer Diskussion im SFB: „Unmenschliche Behandlung ist immer von dem verschuldet, der sie betätigt, und nie von dem Opfer. Es gibt keine Rechtfertigung für unmenschliche Behandlung in einem Rechtsstaat, auch kein Sicherheitsinteresse. Ich respektiere dieses Sicherheitsinteresse gegen eine Gruppe, die den Staat mit Waffengewalt bekämpfen will. Es wäre abwegig, dieses Interesse nicht anerkennen zu wollen. Aber das schließt menschliche Behandlung nicht aus. Im Gegenteil, so wie es Uwe Wesel gesagt hat: Gerade unmenschliche Haftbedingungen für die RAF gefährden die Sicherheit, weil sie neue Generationen von Terroristen produzieren.“

Und: „Im Übrigen darf man die Frage von menschlichen oder unmenschlichen Haftbedingungen nicht mit der Forderung des Abschwörens einer politischen Gesinnung – mag sie noch so verwerflich sein – verknüpfen. In der FAZ habe ich in einem Artikel über Günter Sonnenberg gelesen: ‚Nur wer abschwört, kann auf Erleichterung hoffen.‘ Das ist die Definition von Folter.“

Weiter: „Günter Sonnenberg hat eine Kopfverletzung und wird Invalide bleiben. Da geht der Staat mit einer Unerbittlichkeit und Gnadenlosigkeit vor – verglichen mit einem Fall, wo jemand wegen eines tausendfachen Judenmordes zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und dann wegen angeblicher Depression nach Hause gehen durfte. Also: Sicherheit ja, aber nicht auf Kosten der Humanität.“

Schily plädiert dafür, auf die RAF-Forderung nach Zusammenlegung in größeren Gruppen einzugehen. Seine bemerkenswerte Begründung ist juristisch-moralisch und nur am Rande von der politischen Idee motiviert, dass es zu verhindern gilt, dass RAF-Märtyrer neue RAF-Kämpfer schaffen. Schilys zentrales Argument: Der Rechtsstaat muss human sein. Danach befasst sich Schily nicht mehr mit der RAF. Es scheint für ihn ein abgeschlossenes Kapitel zu sein.

Doch die RAF gibt es immer noch. Vier Jahre später, im Januar 1985, läuft ihr neunter Hungerstreik. 38 Gefangene hungern. Das Ziel ist die Zusammenlegung in großen Gruppen, den Normalvollzug lehnen die Gefangenen ab. Manche Boulevardzeitungen beschreiben die luxuriösen Haftbedingungen von Günter Sonnenberg und Co. Ein forscher SPD-Abgeordneter will das Kontaktsperregesetz reaktivieren. Einige Gefangene werden zwangsernährt. „Es ist wieder so weit“, notiert die Süddeutsche Zeitung lakonisch.

Die linksliberale Öffentlichkeit schwankt hilflos zwischen Zorn auf die RAF, Ratlosigkeit, Resten von schlechtem Gewissen und blankem Überdruss: Die Neigung, sich mit dem leidigen RAF-Problem zu befassen, tendiert seit 1977 gegen null. Die RAF ist ein böses Gespenst der Vergangenheit der Neuen Linken, ein Untoter, der einfach nicht aufhören kann, herumzugeistern und immer weiter Anschläge und verstiegene Kommandoerklärungen zu produzieren, die jenseits einer schrumpfenden Szene niemand mehr liest.

Die Anschläge gehen weiter. Die eiserne Logik von Repression und Terror bleibt ungebrochen.

Im Januar 1985 fordert die grüne Bundestagsfraktion unter Federführung von Joschka Fischer bessere Haftbedingungen – und von der RAF das Ende des Hungerstreiks. Die Fraktion weigert sich, bloß die RAF-Forderung zu übernehmen, sie will der elenden Falle der „Sympathisantenrolle“ entkommen. Das ist das Ergebnis eines Lernprozesses, der Erfahrung, dass die RAF-Gefangenen ihre Unterstützer instrumentalisieren. Doch angesichts der drohenden Spirale von Hungertoten, Anschlägen und neuen RAF-Kämpfern ist diese Forderung auch wohlfeil.

Am 29. Januar schwebt Knut Folkerts in akuter Lebensgefahr. Antje Vollmer und Christa Nickels, beide damals Sprecherinnen der grünen Bundestagsfraktion, versuchen Justizminister Hans Engelhardt dazu zu bewegen, mit den Gefangenen zu reden – vergeblich.

Einen Tag später schreiben sie einen Brief an die RAF-Gefangenen Adelheid Schulz, Birgitte Mohnhaupt, Christian Klar, Sieglinde Hofmann, Roland Mayer.

Wörtlich heißt es in dem Brief: „Liebe/r …, wir schreiben Dir diesen Brief, weil wir Dich gern so bald wie möglich besuchen möchten. Wir waren mit der Diskussion über Euren Hungerstreik, wie sie in unserer Fraktion geführt wurde, sehr unzufrieden. Wir haben in dieser Diskussion vertreten, dass die Grünen die inhaftierten RAF-Mitglieder viel zu lange politisch ignoriert haben und es nun angesichts Eures fortgeschrittenen Hungerstreiks höchste Zeit sei, mit Euch Gespräche zu führen. Wir konnten uns mit dieser Position nicht durchsetzen. Statt dessen wurde per Mehrheitsentscheidung die bekannte Erklärung verabschiedet, die u. a. die Aufforderung an Euch enthält, Euren Hungerstreik abzubrechen. Wir finden es sinnvoll, mit Euch politisch zu diskutieren. Wir möchten Dich bitten, uns die Gelegenheit zu einem Besuch bei dir einzuräumen und uns nicht für eine Mehrheitsentscheidung verantwortlich zu machen, für die wir nicht verantwortlich sind. Herzliche Grüße“.

Am nächsten Tag ermordet ein RAF-Kommando in München den Manager Ernst Zimmermann. Die RAF-Gefangenen brechen daraufhin den Hungerstreik ab – der Staat, so ihre zutreffenden Einschätzung, wird nach den Schüssen von München ihren Forderungen auf keinen Fall nachgeben. Das Gesprächsangebot von Vollmer und Nickels lehnen die Gefangenen ab.

Im März kommt der Brief, offenbar unter Missachtung des Postgeheimnisses in einer Justizvollzugsanstalt, an die Öffentlichkeit – und verursacht einen Sturm der Entrüstung. Union und Liberale rücken Vollmer und Nickels in die Nähe von RAF-Sympathisanten. Justizminister Engelhardt hält den Brief für „eine Sympathie und Solidaritätsbekundung“, CDU-Mann Rudolf Seiters für „skandalös“. Alfred Dregger, Fraktionschef der Union, urteilt: „Näher kann man der RAF geistig nicht kommen.“

So tönt die Union immer, wenn jemand von der Linie abweicht, die RAF für die Verkörperung des Bösen und sonst nichts zu halten. So war es auch im Dezember 1974, als der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) die inhaftierte Ulrike Meinhof erfolglos bat, ihren Hungerstreik abzubrechen. Unionsabgeordnete sahen in seiner Intervention den „einseitigen Versuch“, der RAF moralische Motive zuzubilligen.

Es gibt in der Bundesrepublik eine Tradition der Kontaktschuld: Wer mit dem Bösen redet, ist selbst verdächtig, dessen teuflischer Macht anheim zu fallen. Wer weiß das besser als Schily, der 1977 reihenweise nächtliche Drohanrufe bekam?

Auch in der grünen Fraktion fallen die Reaktionen auf den Brief gemischt aus. Der Ton wird kritisiert, auch dass sich die beiden – immerhin Fraktionssprecherinnen – von dem Fraktionsbeschluss distanziert haben. Viele finden die Aktion naiv, andere die Wortwahl verunglückt. Fraktionskollege Willy Hoss sagt: „Der Brief erweckt Illusionen über die Gutartigkeit der Leute, mit denen ihr sprechen wollt.“

Die Debatte explodiert erst, als Otto Schily eingreift und Vollmer/Nickels einen „nahezu devoten Ton“ gegenüber der RAF vorwirft. „Wie viele muss man denn umgebracht haben, um bei euch als Gesprächspartner in Betracht zu kommen?“, fragt er polemisch vor laufenden TV-Kameras.

Das ist ein Frontalangriff, der auch von Alfred Dregger stammen könnte, eine Infamie, weil er den Kontaktversuch zur Legitimierung der RAF umdeutet. Als der linke Theologe Helmut Gollwitzer Schilys Satz abends in der „Tagessschau“ hört, sagt er: „Der macht den Eindruck, als wolle er den Ruf des Terroristenanwalts loswerden.“

Zwei Tage später verteidigen Heinrich Albertz, Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer und Kurt Scharf Vollmer und Nickels in einem offenen Brief gegen die Angriffe der Union – und zwischen den Zeilen auch gegen Schily. „Otto kannte uns doch“, sagt Christa Nickels heute. „Er wusste doch ganz genau, dass Antje und ich Mord nicht schönreden, dass wir nicht für Gewalt eintreten.“

Schilys Attacke ist, in mehrfacher Hinsicht, eine Verwechslung. Es gibt auf dem Fundiflügel der Grünen in der Tat manche, die den Kampf zwischen RAF und Staat in umgekehrten Bild-Zeitungs-Schablonen rastern, den Staat für grundböse halten und die RAF-Gefangenen, denen man sich politisch irgendwie verbunden fühlt, zu Opfern modellieren. Vollmer und Nickels gehören indes nicht dazu: Sie wollen Bewegung in die Betonkonfrontation zwischen RAF und Staat bringen. Ihre Dialog- und Amnestieinitiative ist, wie sich zeigt, der einzig brauchbare, produktive Ansatz, den die Linke in den Achtzigern zur RAF entwickelt. Der Brief ist der stolpernde Beginn dieser Initiative.

Auf den ersten Blick wäre niemand geeigneter als Otto Schily, der in den Siebzigern wie kaum ein zweiter Anwalt eine souveräne Position zwischen den Fronten verteidigte, um diesen Ansatz zu unterstützen. Warum diese seine schroffe Attacke? Es gibt mehr als ein paar Gründe. Es ist auch eine Abrechnung mit Antje Vollmers Frauenfraktionsvorstand, der einen gravierenden handwerklichen Fehler gemacht hat.

Doch es ist mehr als ein Revanchefoul, es geht um Grundsätzlicheres. Schily blickt auf die Idee, mittels Dialog einer politischen Lösung näher zu kommen, mit Skepsis. Auch 1981, als er noch auf der anderen Seite der Front war, argumentierte er im Fall Debus rechtsstaatlich, weniger politisch. Vollmer und Nickels hingegen planen einen Grenzgang auf ungesichertem Terrain – und das ist nicht sein Metier. Schily versteht es, in Rollen zu agieren, mit Gesetzen, Paragrafen und Vorschriften. Freihändige Dialogversuche mit Terroristen sind etwas anderes.

So sieht er in dem Brief keinen unfertigen, interessanten Versuch, dem es aufzuhelfen gilt, sondern nichts als eine bedrohliche Annäherung an die RAF. Der Brief, sagt er im Spiegel-Streitgespräch mit Antje Vollmer, fördere womöglich „die politische Legitimierung der RAF“. Diese Gefahr gibt es jedoch bei jedem Kontakt mit der RAF – und ebenso bei der Verweigerung des Kontaktes, weil die Ausgrenzung die Outcast- und Opferrolle der Gefangenen zementiert.

Auch Otto Schily hat die RAF in seiner Rolle als Anwalt politisch legitimiert – das war ein unvermeidlicher Nebeneffekt der rechtsstaatlich gebotenen Verteidigung der RAF. Das frühere RAF-Mitglied Klaus Jünschke hat zu Schilys geistiger Kontaktsperre angemerkt: „Antje Vollmer hat doch nicht die Freilassung gefordert, sondern nur gesagt: Wir müssen reden. Warum denn nicht? Lass Grüne eine Woche lang jeden Tag drei Stunden im TV mit der RAF diskutieren. Wenn die RAF anfängt zu diskutieren, ist es mit ihr vorbei. Die RAF sagt: Freiheit oder Tod. Dann müssen wir darüber reden, wie viel Tod in der Freiheit ist, für die die RAF zur Waffe greift. Die RAF soll die Freiheit in Kambodscha erklären, für die die halbe Bevölkerung geopfert wird. Aber Schily sagt Vollmer dauernd nur, dass die RAF legitimiert werden soll. Wovor hat Otto Schily Angst?“

Vielleicht davor, dass jemand merkt, dass er einen fliegenden Wechsel vollzieht. Er bleibt dabei in seinem Koordinatensystem, dem Rechtsstaat. Innerhalb dieses Systems hat er die Seite gewechselt: Hier spricht nicht mehr der linksliberale Anwalt, den CSU-Hinterbänkler und Theo Waigel als „RAF-Staranwalt“ denunzieren können und dem Franz Josef Strauß im Flick-Untersuchungsausschuss auf die Frage, wo die Spenden geblieben sind, antwortet: „Das ist genau so interessant, wie zu wissen, ob ein Teil Ihrer Honorare von den Terroristenprozessen von einem Bankraub stammt.“

Hier spricht nicht mehr der einstige RAF-Anwalt, dem Rechte mit Unverschämtheiten kommen können, hier spricht der kommende autoritäre Innenminister, der den Grünen mit dem Polizeiknüppel droht. „Die RAF“, sagt er zu Vollmer im Spiegel-Gespräch, „hat sich selbst aus dem politischen Diskurs entfernt. Deshalb ist – das mag manche Grüne, dich auch, erschrecken – die Härte des Staates gefordert.“ Die Härte des Staates gegen die RAF? Hat es an ihr in Stammheim gemangelt? Existiert die RAF 1985 noch immer, weil die Gesetze zu weich, die Haftbedingungen zu lax, die Richter zu verständig sind?

Otto Schily beharrt darauf, keine biografischen Brüche zu haben und sich kontinuierlich verändert zu haben. Doch dieser Wechsel ähnelt einem Reißschwenk, der die Perspektive komplett umdreht. Schily trägt in diesem Diskurs mehr als nur eine Meinungsverschiedenheit mit Antje Vollmer aus. Er distanziert sich, über Bande gespielt, von sich selbst, von seiner Vergangenheit. Darin liegt etwas Unlauteres. Schilys Attacke ist auch eine Art Exorzismus, eine Austreibung des bösen RAF-Gespenstes, das in seiner Biografie herumspukt. In gewisser Weise tut er Vollmer und Nickels etwas an, das ihm selbst oft widerfahren ist: die Stigmatisierung zum RAF-Sympathisanten.

Es ist eine schlichte, linkspopulistische Idee, Politiker oder Intellektuelle, die ihre Meinung ändern, reflexartig unter den Generalverdacht zu stellen, sie würden ihr Mäntelchen in den Wind hängen. Dies ist ein billiger Verdacht, in dessen Hintergrund das teutonische Ideal schimmert, dass man zu bleiben hat, was man war, dass man, anstatt die zivile Kunst des Rückzugs zu praktizieren, blind und lernresistent noch rauchende Ruinen zu verteidigen hat. (Dabei hat man gerade in Deutschland mit solcher Art von Prinzipienfestigkeit böse Erfahrungen gemacht.)

Es gibt aber so etwas wie eine Pflicht zur intellektuellen Redlichkeit, die eigenen Lernprozesse und Neubestimmungen dem Publikum darzulegen. Das hat Otto Schily kaum getan.

Im Herbst 1977 hat er dem Spiegel erklärt: „Das Wort Terroristen mag ich nicht.“ Lieber spricht er von „militanten Gruppen“. Knapp zehn Jahre später weigert sich Schily gelegentlich, der taz Interviews zu geben, weil in dem 1978 als Reaktion auf den Deutschen Herbst gegründeten alternativen Blatt die RAF nicht korrekt als Terroristen, sondern als militante Gruppe bezeichnet wird.

Wie ist Schily von hier nach dort gekommen? War es die Entführung der „Landshut“, mit der die RAF eine Aktion akzeptierte, die ihrem eigenen Grundsatz, nie „das Volk“ anzugreifen, beiseite fegte? War es das in Entebbe endende Kidnapping eines Airbus der Air France, der Tod der jüdischen Geisel Dora Bloch? Der Mord an Siegfried Buback? An Gerold von Braunmühl?

Doch Otto Schily versteht das Problem nicht. In seiner eigenen Wahrnehmung hat er sich nicht verändert. 1983 sagt er in einem TV-Gespräch im WDR: In Stammheim sei er als Anwalt „für den Einzelnen eingetreten, dem die Übermacht der Staatsgewalt entgegentritt. Holger Meins hat als Pazifist begonnen, ehe er auf den Irrweg des bewaffneten Kampfes kam. Das ist auch ein Scheitern der Gesellschaft, die es nicht versteht, die Fantasie und das politische Gewissen so in die Gesellschaft mit einzubeziehen, dass daraus etwas Positives werden konnte.“

Doch das gilt nur für die RAF der ersten Generation. Sie sind tragische Figuren, die grausam irren und das böse Echo einer unfähigen Gesellschaft waren. Es liegt auf der Hand, warum Schily das so sieht: Er kannte, schätzte und verstand Gudrun Ensslin, die noch so etwas wie eine Theorie für ihr Handeln entwarf. Die folgenden RAF-Generationen waren nur noch Rächer der gefallenen RAF-Märtyrer. So ähnlich sehen es viele RAF-Anwälte der ersten Generation.

Aber dieser Blick macht es sich zu leicht. Die Biografien von Wolfgang Grams oder Birgit Hogefeld verlaufen nicht viel anders als jene von Holger Meins oder Gudrun Ensslin. Auch bei Grams, Hogefeld und Christian Klar sind ein irrendes Gewissen und moralische Hybris im Spiel. Das macht die Aktionen der RAF nicht weniger blindwütig und keinen Mord besser. Aber es widerspricht der moralischen Hierarchie zwischen der ersten und den anderen Generationen.

Für Schily jedoch gibt es diese Hierarchie. Auch deshalb begreift er nicht, was Vollmer und Nickels wollen. Aus diesem Grund sieht er bei ihnen nur, dass sie einen Fehler machen, den er, soweit es irgend ging, vermieden hat.

Mitte der Achtziger entsorgt Schily die letzten Reste des Linksradikalismus, den er sich allerdings sowieso nur ausgeborgt hatte. 1985 lobt er die Leistungen der „freien Unternehmer“, zehn Jahre zuvor war ihm die reformfreudige SPD der Ära Willy Brandts noch zu kapitalfreundlich. Wie ist er vom diffusen Linkssozialisten zum Unternehmerfreund geworden?

Keine Auskunft. Auch wo Schily sich um Erklärung bemüht, ist nicht viel mehr Reflektion am Werke. Im April 1985 sagt er in einer Debatte der Zeitschrift des Sozialistischen Büros Links (zu der er natürlich, wie immer, zu spät kommt): „Wir haben mit gutem Gewissen dafür demonstriert, dass die Herrschaft Lon Nols abgelöst werden sollte. Das Ergebnis war das mörderische Pol-Pot-Regime. Und es gibt die typische linke Krankheit, sich eine Identität zu leihen: bei Mao, Stalin oder Trotzki. Auch in Nicaragua sehe ich wieder diese Kostümierung mit revolutionären Ideologemen.“

Diese Internationalismuskritik ist, seit 1979, seit Pol Pot, den Boat People und dem Krieg zwischen Vietnam und Kambodscha, common sense in der libertären Linken. Das Projektionsspiel der Siebzigerjahre ist vorbei – was ein Glück und kein Schaden ist. Seitdem wird mit vielen Fanfaren immer wieder der gleiche tote Hund begraben. Schily hat nicht ausgiebig gegen Lon Nol und schon gar nicht für Pol Pot demonstriert.

Pol Pot geht nicht auf das Konto der bundesdeutschen Linken. Kambodscha taumelte nach Krieg und Bürgerkrieg in den Terror der Roten Khmer. Für Pol Pot sind auch nicht jene paar hundert bornierten K-Grüppler verantwortlich, die ihre Zeit damit vergeudeten, schlecht gelaunten Opel-Arbeitern morgens um fünf an den Werkstoren unverständliche Flugblätter in die Hand zu drücken.

Den Pol-Pot-Terror hat die kalte Machtpolitik Chinas begünstigt – und der Bombenteppich der B-52-Bomber, mit denen das Land völkerrechtswidrig in den Vietnamkrieg involviert worden war. Schilys Abschied vom Gestern hat etwas intellektuell Schlampiges, etwas Sloganhaftes.

Zum Thema RAF sagt Schily später oft ungeduldig, dass er immer für den Rechtsstaat eingetreten ist und im Übrigen die anwaltliche Schweigepflicht gilt. Beides ist wahr. Nichts davon ist nachträgliche Erfindung, nichts blanke Schutzbehauptung. So hat Otto Schily auch 1972 schon gedacht und gehandelt. Es war sein Kompass in schwieriger Lage.

Trotzdem ist dies nicht die ganze Wahrheit. Den etwas komplizierteren Anteil dieser Wahrheit sieht man in der Schily-Vollmer-Kontroverse des Jahres 1985. Otto Schily tritt darin als ein Mann auf, der auf der Flucht vor etwas ist, das er nie war: jemand, der der RAF nahe stand. Es ist eine Flucht nach vorn. Und nach oben.

Die Fraktionssitzung der Grünen am 12. März 1985 verlässt Schily etwas früher. Antje Vollmer hat dort gesagt, dass sie mit den CDU-Angriffen gerechnet hatte, aber nicht damit, dass „Otto Schily uns ins Knie schießt“. Schily hat das ungerührt zur Kenntnis genommen. Dann fährt er nach Stuttgart, um dort mit dem FDP-Politiker Helmut Haussmann zu diskutieren. Das Thema ist, was sonst, der Brief an die RAF. Schily nimmt dessen Autorinnen Vollmer und Nickels gegen allzu platte Angriffe in Schutz, attestiert ihnen aber mangelhafte Abgrenzung zur Gewalt.

Die Diskussion findet im Hotel Graf Zeppelin statt.

Ebenfalls in einem Stuttgarter Hotel hat Schily im Frühjahr 1977 sein Plädoyer für Gudrun Ensslin gehalten, „die politisch-militärische Auseinandersetzung zwischen dem Staatsapparat und der RAF“ beschrieben, die Frage ventiliert, ob es, angesichts des Vietnamkrieges, moralisch gerechtfertigt war, US-Soldaten in Frankfurt in die Luft zu jagen, und vermutet, dass der CIA für Bombenanschläge verantwortlich war, die der RAF in Schuhe geschoben wurden. Jetzt fordert er, der Staat müsse der RAF gegenüber hart bleiben.

Zwischen beiden Statements liegen nur acht Jahre. Doch Otto Schily fällt die Symbolik des Ortes nicht auf. Er ist ein Jurist, der sich an die Regeln hält. Er ist ein Politiker, der weiter kommen will. Und er hat weder Lust noch Talent, zurückzuschauen.

STEFAN REINECKE, Jahrgang 1959, arbeitet seit 2001 als Autor für die taz. Sein Text ist der Vorabdruck aus seiner soeben erschienenen Biografie: „Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister“, Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 360 Seiten, 22,90 Euro