Hongkong schwimmt sich frei

AUS HONGKONG GEORG BLUME

Lange Zeit zählte das Hutchison House, das sich heute vor dem mächtigen Wolkenkratzer der Bank of China duckt, zu Hongkongs ersten Adressen. Es war die Zentrale des großen englischen Handelshauses gleichen Namens und verfügt noch immer über einen üppig-vornehmen englischen Dachgarten. Inzwischen sind die unteren Etagen zu den für Hongkong typischen Einkaufsgalerien umgebaut, daneben gibt es kleine Cafés und Nudelbars. In der sechsten Etage hat seit einigen Jahren die Textilfirma Manhattan Garment ihren Sitz. Ihr Vorsitzender James Tien sitzt in seinem Büro.

Die Anrede erfolgt hier per Vornamen. James, gut gepflegte 57 Jahre alt, wirkt wie immer: schlank, hochgewachsen, perfekter Auftritt im standesgemäßen Nadelstreifenanzug. „Hongkong hat keine Probleme“, sagt James. „Hier gibt es keine Erdbeben und Schneestürme, nur Arme und Reiche.“ Als wäre nichts passiert. James war bei der Rückgabe Hongkongs an China vor sieben Jahren Vorsitzender der einflussreichen Industrie- und Handelskammer der Stadt. Anschließend übernahm der Textilunternehmer den für die Wirtschaftsverbände freigehaltenen Sitz im Hongkonger Stadtparlament. Bis heute ist er das öffentliche Gesicht der mächtigen Hongkonger Business-Lobby: „Hongkong ist kapitalistisch, China sozialistisch mit chinesischen Charakteristika“, sagt James. Wie immer. Aber dann wird er doch deutlich: „Unsere kapitalistischen Werte gewinnen an Boden. China bewegt sich auf unser System zu – nicht umgekehrt.“ Als diktiere Hongkong und nicht Peking die richtige Auslegung der Verfassungsformel „Ein Land, zwei Systeme“.

In Wirklichkeit ist der einst so brave Lobbyist James längst zur Symbolfigur des demokratischen Wandels in Hongkong avanciert. Zwei Gründe gibt es dafür: Erstens hat der Unternehmer seinen sicheren Lobbyistenplatz im Stadtparlament aufgegeben und kandidiert bei den Wahlen am kommenden Sonntag erstmals für ein frei gewähltes demokratisches Mandat. „Die Geschäftswelt fürchtet sich nicht mehr vor der Demokratie“, erklärt James sein neues Engagement. Zweitens war er derjenige, der im letzten Jahr ein von Peking diktiertes Sicherheitsgesetz im Stadtparlament kippte, als er sich zur Überraschung aller auf die Seite der oppositionellen Demokraten stellte. „Wir müssen einen Konsens zwischen China und den Demokraten aufbauen“, rechtfertigt der Textilmagnat heute seine Entscheidung.

Das hört Peking nicht gerne. Immerhin zählt James zu den Leuten, die in der Hauptstadt von Vizepräsident Zeng Qinghong empfangen werden. Zeng ist die Nummer fünf der KP, engster Vertrauter des früheren Präsidenten Jiang Zemin und im Politbüro zuständig für Hongkong. Zeng ist also die wahre Nummer eins der Stadt. Aber nicht für James: „Ich verstehe nichts von China“, entzieht er sich dem Gespräch. Als habe er mit Zeng nichts zu tun. Schließlich will er am Sonntag seinen Wahlbezirk gewinnen.

Wie konnte es die KP so weit kommen lassen? Nach der Rückgabe 1997 schienen Hongkongs Demokraten ausmanövriert, eine winzige Minderheit. Die Stimmung war auf Seiten Chinas, der Patriotismus neu geboren. Selbstsicher ließ Peking den Dingen ihren Lauf – und merkte nicht, wie die Wirtschaft Hongkongs in den folgenden Jahren kriselte, die Sars-Epidemie das Sicherheitsempfinden dämpfte und der von Peking eingesetzte Stadtchef langsam die Kontrolle verlor.

So kam der 1. Juli 2003 für Peking wie ein Paukenschlag: 700.000 Menschen, jeder zehnte Bewohner Hongkongs, gingen an diesem Tag aus Protest gegen das erwähnte Sicherheitsgesetz auf die Straße – aus Angst vor mehr politischer Kontrolle durch Peking. Damit war die Hongkonger Demokratiebewegung wiedergeboren.

Aber auch in Peking war die ehemalige Kronkolonie plötzlich wieder Thema. Schon am 3. und 4. Juli vergangenen Jahres trat der ständige Ausschuss des Politbüros, Chinas höchstes Entscheidungsgremium, zu einer geheimen Sondersitzung zusammen. Von einem neuen „Kampf um die Herrschaft über Hongkong“ war da plötzlich die Rede, als müsse die Stadt erneut zurückerobert werden. Die Befürchtungen der KP-Führung aber schienen sich in diesem Jahr zu bestätigen: Noch einmal demonstrierten 200.000 Hongkonger am 1. Juli gegen die Pekinger Gesetzgebungspolitik und für mehr Demokratie. „Die KP sieht ihre Souveränität durch die Demonstrationen gefährdet“, beobachtet der einflussreiche Kolumnist Willy Wo-lap Lam. „Deshalb spricht sie nun von einer Unabhängigkeitsbewegung.“

So weit gehen die Vorwürfe tatsächlich. Hohe Pekinger Beamte tragen offen ihre Sorgen vor westlicher Einflussnahme vor. „Die Briten neigen zu kolonialer Nostalgie“, tönt es warnend. Treffen soll das auch die Demokraten vor Ort, die man wegen der angeblichen westlichen Unterwanderung öffentlich des „Vaterlandsverrats“ bezichtigt. Zugleich aber hat Peking die Wahlherausforderung am Sonntag auch positiv angenommen und in den letzten Tagen eine Kampagne ohnegleichen aufgezogen. Chinas fünfzig Goldmedaillengewinner von Athen, darunter das gesamte Frauenvolleyballteam, wurden eingeflogen, um mit lokalen Schlagerstars patriotische Lieder zu singen. „Nicht immer so talentiert wie ihre Leistungen in Athen“, kommentierte die South China Morning Post die Show. Aber möglicherweise talentiert genug, um einigen Wählern die Entscheidung für KP-nahe Kandidaten zu erleichtern.

Emily Lau, die langjährige Stadtabgeordnete und Vorkämpferin der Demokratiebewegung, erkennt die Bemühungen der KP durchaus an: „Wir sind Teil des interessantesten politischen Experiments in China. Deswegen machen wir trotz aller Behinderungen weiter“, sagt Lau, auf dem mit braunem Leder bezogenen Stuhl ihres Parlamentsbüros sitzend. Weil sie selbst zu den radikalsten Stimmen der Stadt zählt, bekommt sie regelmäßig Drohanrufe, wurde ihr Büro im Frühjahr mit Exkrementen beschmiert, ist in ihre Wohnung vergangene Woche eingebrochen worden. „Peking hat Angst, die Wahl zu verlieren“, erklärt sich Lau die Schikane. Nur demokratisch geht es in Hongkong also keineswegs zu. Aber doch demokratischer als je zuvor in der Volksrepublik.