Hand aufs Herz

Der religiös inspirierte Terror, auch der vom 11. September 2001 in New York und Washington, hat im aufgeklärten Westen Unbehagen ausgelöst: Wird die westliche Moderne nicht irgendwie zu Recht verachtet und gehasst – weil sie ihrer religiösen Wurzeln verlustig gegangen ist?

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Wer etwas besonders pathetisch und eindringlich sagen will, legt gerne beschwörend die Hand aufs Herz. Jüngst hat dies der ehemalige Chef der hessischen Staatskanzlei im Deutschlandradio, getan: „Hand aufs Herz: Es sind nicht nur Angst und Schrecken, die uns die Bilder leidenschaftlicher religiöser Ausbrüche in der arabischen Welt einflößen. Gewiss, die Distanz ist groß, und unverständlich sind uns Geißelungszeremonien, mit denen hunderttausende einen Imam feiern […]. Doch es sind eben auch Bilder ekstatischer Hingabe, religiöser Inbrunst und damit das Gegenteil dessen, was unsere eigene Religion im Abendland ausmacht.“

Alexander Gauland, Autor des Buchs „Anleitung zum Konservativsein“, beklagt ein „übersäkularisiertes“ Europa, dessen Werte durch die Trennung von Kirche und Gesellschaft zerfielen: „Denn Gesetze werden eben nicht nur befolgt, weil sie mit einer Buße oder Strafe bewehrt sind, sondern zuvörderst, weil sie Werte verkörpern, die die Wurzeln ihrer Gültigkeit jenseits des staatlichen Machtanspruchs haben. Eine reine Privattugend kann diese Aufgabe nicht erfüllen.“ In der „heißen“ islamischen Glaubenskultur meint Gauland ein Antidot gegen die Kälte der entzauberten westlichen Welt entdeckt zu haben: Das „Credo von der fortschrittlichen Säkularisierung“, so mahnt er, sei zu überdenken.

Die Inbrunst gegen die Kälte

Mit dieser Warnung steht er nicht allein, im Gegenteil. Die Front der Säkularisierungskritiker, die ihr konservatives Herz zugleich für die aufregende Inbrunst des Islam entdeckt haben, reicht von Jürgen Todenhöfer bis Peter Gauweiler. Sie äußern sich in der Welt oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und sie sind christlich – meist katholisch, hin und wieder auch protestantisch – grundiert. Sie stehen in der Regel der Union nahe, gern auch den Grünen.

Tatsächlich gibt es angesichts der religiös aufgeladenen Konfrontation von Ost und West – oder sollten wir altertümlich, aber aktualitätsgerecht sagen: des Abend- und des Morgenlands? – für das neu aufgestellte Europa gute Gründe, auch über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft neu nachzudenken. Zumal in einer Situation, in der sich hierzulande konträre Fantasien kreuzen: Dem optimistischen Entwurf eines zu neuem Glanz aufsteigenden Europa (mit deutschem Führungsanspruch) stehen die Ängste eines ökonomisch ins Strudeln geratenen Sozialstaats gegenüber. Vor dem Hintergrund massiver sozialer Umwälzungen verzeichnet die Sehnsucht antisäkularer Konservativer nach einer prämodernen Ordnung von festen Sinngehalten und starker kollektiver Solidarität fast zwangsläufig Raumgewinn. Sie passt bestens zur kollektiven Depression, die sich Deutschlands bemächtigt hat.

Wer kaum verhohlen das Additiv kollektiver religiöser Ekstase zur Aufbesserung der angeschlagenen westlichen Wertewelt anpreist, sollte freilich wissen, wovon er redet. Die demonstrative Konfrontation von kalter, individualistischer Säkularisierung und heißer kollektiver Religionsübung zeigt nicht nur eine gefährliche Sympathie für die Verlockungen theokratischer Masseninszenierungen, sondern auch grobe Unkenntnis der eigenen Geschichte. Die Blaupause des modernen Europa basiert gerade auf der komplizierten Verzahnung des religiösen Erbes mit seiner säkularen Kritik.

Nach 1789 gilt: Kein Europa ohne die Ideale des Christentums, kein Europa ohne die aufklärerische Verbannung der Transzendenz aus der Politik mitsamt jener folgenreichen Individualisierung, die wir im Begriff Säkularisierung denken. Religiöse Tradition und Säkularisierung bilden als untrennbares Zwillingspaar die Grundpfeiler einer europäischen Identität: eine konstitutive Ambivalenz, die dazu zwingt, sich immer wieder neu an ihr abzuarbeiten.

Das Pathos der europäischen Idee besteht nicht ja zuletzt darin, die überkommene heilsgeschichtliche Energie in rationale Politik umzusetzen. Aufklärung heißt immer auch: Sublimierung der religiösen Triebkraft in weltliche Emanzipation. Wann immer diese Transformation misslang, war der Weg für politische Romantizismen geebnet, die im schlimmsten Fall die von den Neokonservativen so geschätzte „religiöse Leidenschaft“ in vernichtende Gewalt umschlagen ließ – religiös inspirierte Kriege wie auf dem Balkan mögen als zeitgenössisches Beispiel gelten.

Seit der EU-Erweiterung (mit dem Beitritt des erzkatholischen Polen) und der Debatte um die (im Kern islamische) Zuwanderung ist der Chorgesang über „europäische Identität“ erneut von religiösen Untertönen erfüllt. Die Frage, was den inneren Zusammenhalt einer halben Milliarde Menschen aus 25 Nationen gewährleisten soll, deren hauptsächliche Beziehung zueinander oft intensiver Hass war, führt scheinbar automatisch auf das Problem der religiösen Gemeinschaftsbindung zurück.

Die Frage stellt sich umso dringlicher, seit der primitivste (und effektivste) Mechanismus, Zusammengehörigkeitsgefühle zu schaffen: die Konfrontation mit einem äußeren Feind, sich jüngst als überraschend zweischneidig erwiesen hat. Der von der Bush-Administration propagierte Krieg gegen den Terrorismus hat in den europäischen Kernländern – nicht zuletzt wegen der aufdringlich religiös inszenierten Kreuzzugstheatralik – keine Loyalität zu schaffen vermocht, sondern zu einer Spaltung des westlichen Lagers geführt.

Und genau dies verweist auf eine Differenz des europäischen und des nordamerikanischen Säkularisierungstypus. In den USA existiert nicht nur ein anderes Mischungsverhältnis von religiöser Tradition und Rationalität, sondern auch eine grundlegend andere Beziehung von Gesellschaft, Religion und Staat. Die häufig kritisierte Nähe der US-Außenpolitik zum Missionarischen speist sich nicht zuletzt aus dem Reservoir vielfältiger und höchst unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, deren Energie im Namen der gemeinsamen amerikanischen Sendung patriotisch transformiert werden kann. Das interne Verhältnis von Staat und Religion ist hingegen neutralistisch. Niemals hat in den USA der Staat als innerweltliche Versorgungsinstanz die heimliche Nachfolge des gütig obwaltenden Gottes angetreten, wie das exemplarisch in Deutschland aufgrund der verschlungenen Geschichte säkularer Heilsbewegungen – auch: Kommunismus, Nationalsozialismus – der Fall gewesen ist.

Das derzeit sichtbare Ende des Glaubens an den allmächtigen und allgütigen Sozialstaat macht uns zu Zeugen eines Säkularisierungsprozesses sui generis. „Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort“, sagte nach dem Schock des 11. September der Philosoph Jürgen Habermas, um die unhintergehbare Bewegungsrichtung der westlichen Demokratien zu beschreiben.

Tatsächlich reicht sie weiter: So wie die Religion den Mythos rationalisierte und die Aufklärung der Religion Grenzen setzte, unterliegt nun der Garant des Säkularisierungsprozesses, der Staat, selber der Entzauberung. In Zeiten knapper Ressourcen wird der Sozialstaat mit seinem eigenen Mythos konfrontiert und Gegenstand einer „Rationalisierung“, die der harten Sphäre der Ökonomie entstammt.

Das auf die Formel „Die Rente ist sicher“ säkularisierte himmlische Jerusalem erweist sich immer klarer als Illusion. Mit dem Verlust der spätmodernen Zivilreligion: der staatlich garantierten „Solidargemeinschaft“, öffnen sich auch die Tore für antisäkulare Regressionen. Die durch die Erosion der Sozialsysteme forcierte Auflösung sozialer Bindungen erzeugt Panik und immer heftiger den Wunsch, sie durch transzendente zu kompensieren.

Grace Davie, englische Religionssoziologin, spricht angesichts der Entkirchlichung Europas bei gleichzeitig steter Konjunktur privater religiöser Überzeugungen vom „Glauben ohne Bindung“, ihre französische Kollegin Danièle Hervin-Léger von „Bindung ohne Glauben“. Beides läuft auf dasselbe Problem hinaus: die aktuelle Not, Formen von Gemeinschaft zu etablieren, die das säkular freigesetzte Individuen in seiner Einsamkeit gegenüber den Imperativen einer immer unverständlicheren Gesellschaft entlasten können, die zudem immer weniger in der Lage scheint, das Bedürfnis nach Sinn und Zusammengehörigkeit zu befriedigen.

Europäisches Erbe der Balance

Worum es geht, sind Gemeinschaftsformen, die ein Gegengewicht gegen die alltäglichen Zumutungen moderner Gesellschaften schaffen, ohne auf eine Gegenwelt zu regredieren, die das Individuum aus der Verpflichtung auf Rationalität entlässt. Dafür allerdings können die von Gauland und anderen bewunderten islamischen Kollektivrituale am wenigsten Vorbild sein. Was wir derzeit im TV zu sehen bekommen, sind meist alles andere als quasinatürliche Akte religiöser Inbrunst, sondern Produkte der rücksichtslosen politischen Instrumentalisierung von Glaubensäußerungen im Zeichen der neuen Ost-West-Konfrontation. Wer solche Inszenierungen anhimmelt, beweist bestenfalls Naivität, im schlimmsten, dass er bereit ist, das kostbarste Erbe Europas aufs Spiel zu setzen: die – ja tatsächlich schwierige – Balance von religiöser Tradition und ihrer säkularen Kritik.

Er schlägt damit die Chance aus, die sich Europa in der aktuellen weltpolitischen Konstellation bietet: Die Chance, einen dritten Weg zwischen zwei religiös inspirierten Fundamentalismen – den nach Art von George W. Bush wie jenem der Islamisten vom Schlage Ussama Bin Laden – aufzuzeigen, die dabei sind, das ihnen innewohnende Potenzial an Paranoia wechselseitig zur Blüte zu bringen. Hand aufs Herz: Ist es nicht genau das Gegenteil von dem, was ein Konservativer sich wünschen kann?