Die Normalisierung des Anomalen

Seit „9/11“ sind die Medien immer abhängiger von Terror-Nachrichten geworden. Das könnte zu einem zentralen Problem der demokratischen Gesellschaften werden

Die Erfolgslogik bewirkt, dass sich der Terror auf die Medien und die Medien auf den Terror fixieren

Seit dem 11. September 2001 sind Verschiebungen im Mediendiskurs erkennbar, ohne dass sich bereits neue Koordinaten, theoretische Positionen oder Perspektiven der Medienkritik abzeichnen würden – von Veränderungen der Medienpraxis ganz zu schweigen. Die durchschlagende Bildwirkung des Anschlags auf die Twin Towers hat zunächst ein nachgerade fundamentales Erschrecken hervorgerufen, das in aufgeregte Diskussionen mündete, nach den Terrorattacken der folgenden Jahre immer wieder aufflackerte und bis heute für ein nachhaltiges Unbehagen sorgt, wenn von den „Bildern des Terrors“ oder vom „Terror der Bilder“ die Rede ist. Fast scheint es, als sei mit dem 11. September nicht nur eine Ära neuer, zuvor ungeahnter Gefährdungen für die Weltgemeinschaft angebrochen, sondern auch ein neues Medienzeitalter, das Marshall McLuhans populäre Vision vom „global village“ in einem makabren Zwielicht erscheinen lässt.

Die lapidare Erkenntnis, dass von politischen Wahnvorstellungen oder religiösem Fanatismus angetriebene Attentäter die Öffentlichkeit suchen und deren Medien nutzen, ist freilich keineswegs neu, vielmehr in der langen Geschichte des Terrors vielfach belegt. Sie bedurfte nicht erst der Anschläge al-Qaidas, um ins allgemeine Bewusstsein gehoben zu werden. Es war wohl – neben der Symbolik des Szenarios – die überwältigende Visualität der Videobilder von den einstürzenden Türmen, die den Anschlag dem Gedächtnis der Menschheit mit brutaler Deutlichkeit als medienstrategisches Arrangement und kalkulierte Bildinszenierung eingeschrieben hat. Die hilflose Selbstzensur, die Hollywood für einige Monate über seine eigenen Katastrophenfilme verhängte, mag im Nachhinein skurril erscheinen, aber sie beleuchtete die Konfusion, die plötzlich in die Debatte über Bilder geraten war. Seither staunen wir darüber, dass in den Bilderfabriken die fiktionalen Erzählungen an Faszination eingebüßt haben und vom „Hunger nach Wirklichkeit“, nach einer wie auch immer beschaffenen „Authentizität“ eingeholt wurden.

Die Katastrophen- und Horrorgeschichten des Kinos verblassen heute vor den „Realbildern“, die wir der „aktuellen Berichterstattung“ oder vielmehr der „Breaking News“-Philosophie der internationalen Fernseh-Networks, ihren Kamerateams und ihren Hightech-Standards verdanken. In der Serie der Anschläge seit dem 11. September – von Bali über Istanbul, Moskau und Madrid bis Beslan, um nur die besonders grauenhaften zu nennen – hat sich neben der Abhängigkeit des Terrors von den Medien immer klarer die der Medien vom Terror herauskristallisiert: Sie könnte zu einem zentralen Problem demokratischer Gesellschaften werden, die auf umfassende Information, Ursachenanalyse, gesellschaftliche Debatten und politische Diskurse angewiesen sind.

In diesem Punkt bildete „9/11“ in der Tat eine Zäsur. Die Echtzeit-Berichterstattung, die Omnipräsenz unzähliger Kameras, die Beschleunigungskräfte der Medienindustrie und ihre Fähigkeit, ihre Energien weltweit auf ein einziges Ereignis zu konzentrieren, bestätigten nicht nur die Medienaffinität des Terrors, sondern auch die frappierende Tatsache, dass die Medien den Ausnahmezustand des Terrors benötigen, um sich selbst zu überbieten und auf dem Markt mit einer neuen, zuvor unbekannten Ware aufzutrumpfen. Zunehmend bewährt sich die Mordindustrie der Terroristen als Zulieferindustrie der Fernsehsysteme. Al-Qaida kreiert, um mit den Insidern zu sprechen, neue „Sendeformate“ und verleiht dem Geschäft mit der Nachricht ein neues „Design“. Dabei fungieren die von den Terroristen selbst hergestellten Videos von Hinrichtungen und Massakern als perverse Highlights des Dokumentarismus; sie sorgen für Medienskandale und verhelfen den Medien selbst somit zu einem wichtigen Marktfaktor.

Landläufige Medienschelte und moralische Empörung über eine „sensationsgeile Berichterstattung“ wären verfehlt. Es geht darum, kompatible Systeme zu beobachten und die dem Prozess innewohnende Dynamik zu erkennen. Seit der weltweiten Privatisierung des Geschäfts mit den Nachrichten im Zuge der Globalisierung orientiert sich auch die Bewusstseinsindustrie nach den Gesetzen des Markts. Es ist simple Erfolgslogik, die bewirkt, dass sich der Terror auf die Medien und die Medien auf den Terror fixieren. Beiden Systemen ist ein Zwang zur Selbstüberbietung eingebaut: Geht es auf der einen Seite um die Dynamisierung der Gewalt, so erstrebt die andere eine Optimierung, d. h. fortschreitende Emotionalisierung und Dramatisierung der Gewaltberichterstattung. Inzwischen durchwuchert die so konstruierte Medienrealität einer vom Terror beherrschten Welt das gesamte Programm. Schleichend unterwandert sie die Talkshows, den Börsenbericht, den „Tatort“, die Doku-Soaps und das „Wort zum Sonntag“ – es ist nur eine Frage der Zeit, dann sickert sie auch in den Landfunk und in die Heimatfilme des Bayerischen Rundfunks ein.

Die Erkenntnis, dass Attentäter die Öffentlichkeit suchen und deren Medien nutzen, ist keineswegs neu

Es gehört zur Medienrealität, dass sie sich permanent selbst thematisiert. Was Medien anrichten, ist wiederum Gegenstand medialer Reflexion. Ähnlich wie in der Politik nach „politischen Lösungen“ im Kampf gegen den Terror gerufen wird, ertönt in den Medien der Ruf nach „Hintergrundberichterstattung“ im Kampf gegen die Monotonie der Terrorbilder: Selbstermahnungen, die zur Entlastungsphrase geworden sind, weil in der Dynamik von Terror und Gegenterror das politische Denken und die Selbstreflexion der Mediensysteme längst ins Hintertreffen geraten sind. Putins Modell imitiert das Modell Bush, und das Modell des öffentlich- rechtlichen Fernsehens folgt den Modellen CNN und Fox. Die Versuche des Kremls, die Informationskanäle zu instrumentalisieren, sind allerdings ebenso antiquiert wie das Konzept der Amerikaner, mit „embedded correspondents“ für den Irakkrieg zu werben – in einer Zeit, in der auf der einen Seite die Terroristen, auf der anderen die staatlichen Folterer ihre Videos selbst drehen und in die Netze einspeisen.

Terror und Gegenterror wie im Irak, im Nahen Osten oder in Tschetschenien bilden ihrerseits ein geschlossenes System, dessen Dynamik, verstärkt durch die Mediensysteme, paradoxerweise eine stabilisierende Wirkung hat und eine Normalisierung des Anomalen betreibt. Wir reagieren mit einer Anpassung unseres Nervensystems, was von den Medienwächtern gern als „Abstumpfung der Sinne“ gerügt wird, obwohl doch unsere Sinne im Alarmzustand bleiben und die nächste Katastrophe erwarten. Dennoch bringt die Normalisierung des Anomalen unseren Alltag keineswegs aus der Balance: Obwohl jeden Tag zahllose Menschen auf der Welt von Bomben zerrissen werden, halten wir daran fest, ein Leben nach den Empfehlungen der Werbeblöcke führen. Die Büchse der Pandora ist gläsern geworden; wir können alles sehen, was sie enthält, wiegen uns jedoch in der trügerischen Gewissheit, dass sie sich nicht öffnen wird – jedenfalls nicht für uns. KLAUS KREIMEIER