montagskolumne: meinhard rohr zur lage der nation im spiegel seines wissens
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Der Herbst ist die Geburtsstunde aller Künstler, Trinker und Thekenphilosophen. Jetzt wärmen sie sich wieder am Autodafé des Fusels, am Feuer des Absynth, an den Flammen des Amaretto. Sie tanzen wie die Jünger des Dionysos um den Wirt des Lebens. Bordeaux-rot, Bretagne-blanc, Marseille-rosé glänzen ihre Augen im Flimmer, Glimmer und Schimmer der Kerzen. Verse fliegen umher wie die Motten der Liebe. Allerorten zäumt Pegasus sein Pferd und reitet auf Kamerad Reim in den Sonnenuntergang. Schon 1968, als ich leider noch zu den Linken gehörte, entzündete sich in mir Lyrik, Dichtung und Poesie. Oft habe ich mit Bildern, Metaphern und Symbolen gerungen, und erst im Morgengrauen löschte ich den Durst an der Dichtung. Beschämt breitete ich dann das Schweigen des Mäntelchens über meinen Versen aus. Erst heute, nachdem ich im Hormonloch des Mittelalters angekommen bin, weiß ich, dass Dichten in, hip und trendy ist. Ja, heute bekenne ich mich: Ich bin ein Herbstgeborener!

Diese Kolumne erscheint in loser, aber leider häufiger Folge.