Die Gefahren des Wissens

Der Streit ums Klonen zeigt: Expertenwissen wird nicht sinnvoll kontrolliert. Nico Stehr und Karin Knorr Cetina formulieren eine neue Wissenspolitik

Nationale Kontrolle wird dem globalen Forschungsmarkt nicht mehr gerecht

von JAKOB VOGEL

Die endlosen Debatten in der Politik und in den Medien um das Verbot des menschlichen Klonens und die Biotechnologie haben erneut gezeigt: Es fällt auch in unserer modernen Gesellschaft noch immer schwer, verbindliche Regeln für die Kontrolle des Expertenwissens und die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aufzustellen. Die Multiplikation von Ethik- und Sachverständigenräten sowie anderer Entscheidungsinstanzen ist ein beredtes Zeichen für dieses Dilemma.

Von Seiten der Wissenschaftler wird bei solchen Auseinandersetzungen gerne auf die vorgebliche Neutralität der „reinen Forschung“ oder auf den „Vorsprung“ des Auslandes verwiesen. Auf diese Weise wollen sie die Spielräume der eigenen Forschung ausweiten. Hat das Jagdfieber erst einmal die Lehrstühle und Forschungsabteilungen der Unternehmen erreicht, sind selbst seriöse Wissenschaftler gerne bereit, bestehende ethische Bedenken oder Grenzen der Forschung zurückzustellen. Die beteiligten Politiker werden dann oftmals an den Rand gedrängt, da es ihnen am entscheidenden Fachwissen fehlt.

Das Aufkommen derartiger Debatten und Konflikte sieht der in Kanada lehrende Soziologe Nico Stehr als Teil einer umfassenden „Wissenspolitik“, die schon immer die praktische Anwendung von Forschungsergebnissen begleitet hätte. Die neuen wissenschaftlichen Herausforderungen und die „gestiegene gesellschaftliche Bedeutung der Naturwissenschaften“ gäben diesem Politikfeld in Zukunft aber eine wachsende Bedeutung. Denn: „Dem Wachstum des Wissens sind praktisch keine Grenzen gesetzt.“

Stehr beschäftigt sich schon seit langem mit den verschiedenen Aspekten der modernen „Wissensgesellschaft“. In seinem jüngsten Essay plädiert er dafür, die Kontrolle „der Anwendung von Wissen“ nicht als das Feld von Experten, sondern als eine allgemeine Aufgabe zu betrachten. Würde sich die Gesellschaft dieser eminent politischen Frage wirklich stellen, müsste auch die Besetzung der Sachverständigenräte genauer auf ihren demokratischen Gehalt abgeklopft werden.

Eine mögliche Lösung dieses Problem sieht Stehr in der Bildung von „hybriden Organisationen“. Ein sinnvolles Beispiel ist für ihn hier der Ethikrat der Bundesregierung. In ihm und ähnlich strukturierten Gremien sollten sich Wissenschaftler und Politiker mit den konkreten Fragen der Anwendung einzelner Forschungsergebnisse befassen. Derartige Institutionen könnten auch breite gesellschaftliche Debatten anregen und bündeln, glaubt Stehr. Wie dies jedoch im Einzelnen geschehen soll, dazu schweigt er sich bedauerlicherweise aus.

Ein besonderes Problem für die Wissenspolitik stellt sich nach Stehr im Kontext der Globalisierung. In vielen Bereichen, etwa bei der gentechnischen Veränderung von Saatgut, könne eine nationale Kontrolle der Forschung den Realitäten des globalen Forschungsmarktes nicht mehr gerecht werden. Zu befürchten sei ein „ethisches Dumping“, da die einzelnen Staaten gemäß des liberalen Markt-Credos um Standortvorteile ringen und dabei Restriktionen eher ab- als aufbauten. Eine sinnvolle Politik des Wissens dürfe daher nicht an den nationalen Grenzen stehen bleiben.

Nico Stehrs Essay bündelt eine ganze Reihe von äußerst wichtigen Fragen zur Umsetzung von neuen Technologien, die in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit der Genforschung und Biotechnologie diskutiert wurden. Das ist nicht frei von soziologischem Jargon und wird auch nicht in allen Punkten stringent ausgeführt. Dennoch ist das Buch außerordentlich anregend, da es wichtige Anstöße dazu gibt, wie unsere Gesellschaft mit den neuen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten umgehen sollte.

Hat das Jagdfieber erst einmal die Lehrstühle erreicht, fallen ethische Bedenken

Nicht besonders überzeugend gerät jedoch Stehrs Versuch, ein umfassendes Politikfeld der „Wissenspolitik“ zu definieren. Zu unterschiedlich sind die Probleme und damit auch die gangbaren politischen und juristischen Lösungen in den einzelnen Wissenschaftsbereichen: So stellen sich andere Fragen bei der Präimplantationsdiagnostik als im Fall der internationalen Agrartechnologie, die seit vielen Jahrzehnten tief in herkömmlichen Anbaumethoden eingreift. Die notwendigen Differenzierungen möchte Stehr aber der empirischen Forschung überlassen, doch genau hier ist der entscheidende Ansatz für eine Soziologie der Wissensgesellschaften zu suchen – wie Karin Knorr Cetina in ihrer mehrfach preisgekrönten Arbeit zeigt.

Statt allgemein von „einer Naturwissenschaft“ spricht Knorr Cetina von spezifischen „epistemischen Kulturen“ der einzelnen Disziplinen, die „Wissen“ auf sehr unterschiedliche Weise erzeugen und ausüben. Wie stark die jeweiligen „Praktiken des Wissens“ divergieren können, verdeutlicht sie an den teilweise stark gegensätzlichen Laborstrukturen, in denen Teilchenphysiker und Molekularbiologen ihre Forschungen betreiben.

Ebenso wie auch in beiden Fällen keine einheitlichen Kriterien für einen schlüssigen wissenschaftlichen „Beweis“ bestünden, könnten auch Wissensgesellschaften nicht als homogen betrachtet werden, da dies die Komplexität der Wissensordnung und die möglichen Widersprüche zwischen den Experten verdecke. Die Einsicht in die politische Dimension des Wissens enthebt den Soziologen daher gerade nicht einer detaillierten empirischen Analyse.

Angesichts der divergierenden Wissenskulturen müssen in den jeweiligen Fällen, so Knorr Cetinas Folgerung, vielmehr unterschiedliche praktische Lösungen zur Kontrolle und Beschränkung der neuen Technologien gefunden werden – eine Einsicht, die Stehrs globalisierender Ansatz zur Wissenspolitik vermissen lässt.

Nico Stehr: „Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 350 Seiten, 13 €ĽKarin Knorr Cetina: „Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 384 Seiten, 14 €