Unter Steppenwölfen

Auf der Suche nach Verständnis: In Gernot Wolframs Erzählband „Der Fremdländer“ tummeln sich Großstadtnomaden, passionierte Außenseiter und moderne Einsiedler

Ein schriftstellernder Exilchinese, „Kleiner L.“ genannt, sitzt in seiner Berliner Wohnung und reist in wenigen Minuten um die Welt. Jede Nacht schaltet er um die gleiche Zeit das Radio an und sucht nach den entlegensten Programmen. Er lauscht den Stimmen der baltischen Stationen ebenso wie dem bretonischen Folklorekanal oder den ungarischen Meldungen. Jede Nacht wagt er sich weiter vor, dreht unruhig am Frequenzregler und überspringt in Sekundenschnelle die Kontinente. Irgendwann bleibt er an einer Sendung aus Kairo hängen, die Ausschnitte aus der Pekingoper bringt. Endlich scheint er gefunden zu haben, wonach er gesucht hat, bis sein lärmempfindlicher Nachbar einen Beschwerdebrief an die Hausverwaltung schickt. „Kleiner L.“ beschließt daraufhin, „darüber zu schreiben, wie es ist, auf Vertrautes verzichten zu müssen“. Aber es gelingt ihm nicht, seine Zurückhaltung in Worte zu fassen.

Dafür ist es dem 1975 im sächsischen Zittau geborenen Gernot Wolfram gelungen, das kurze Glück des „Kleinen L.“ leicht und poetisch zu beschreiben, wodurch auch L. trotz seiner Körpergröße und Schüchternheit im letzten Jahr beim Walter-Serner-Preis groß rausgekommen ist. „Am Radio“ ist die erste und beste von insgesamt zwölf Geschichten in Gernot Wolframs Erzählband „Der Fremdländer“. Eigentlich müsste das Buch „Die Fremdländer“ heißen. Denn egal wo sich Wolframs Figuren aufhalten, ob in Berlin, Istanbul, Prag oder Poznań, keine fühlt sich wohl in ihrer Haut, alle sind auf der Suche nach Verständnis, Nähe und ein bisschen Heimat. Manche forschen nach alten Bildern oder Wandmalereien, andere sehnen sich nach großen Gefühlen oder kleinen Abenteuern. Die meisten wissen jedoch nicht einmal, was sie wollen, sie spüren nur, dass etwas fehlt.

Einer der Fremdländer ist Baumann, ein Sprachlehrer aus Berlin, der sich in einem dämmrigen Hotelzimmer in Poznań mit der Polin Rodina trifft. Wenn sie kommt, setzt sie sich neben ihn aufs Bett und zieht sich aus, ohne etwas zu sagen. Baumann findet sie weder schön noch aufregend. Er unterdrückt das Verlangen, sie zu berühren, und ist nur an der Spannung interessiert, die aus der Gleichzeitigkeit von Fremdheit und Intimität resultiert. Am Ende verlässt Rodina ihn, weil er sie nur anschaut wie ein „exotisches Tier“ und keinen Anteil an ihrem Leben nimmt.

Selbst wenn die Personen in Wolframs Erzählungen im Rudel auftreten, wie die israelischen Restauratoren, die in der Ukraine die Fresken eines bedeutenden polnischen Autors und Malers von den Wänden schlagen, sind sie doch allesamt Einzelgänger und Außenseiter, Großstadtnomaden und moderne Einsiedler. Sie halten sich selbst für „wenig durchdachte Existenzen“ und wissen auf die Frage, was sie so treiben, keine Antwort.

Diese Gleichförmigkeit der Charaktere ist die Schwäche des Erzählbands. Es sind Irritationen, unspektakuläre Ereignisse, die den Alltag für eine Weile in Schwingung versetzen, aber nicht umstürzen. Das erinnert manchmal an Judith Hermann. Was Gernot Wolframs Erzählungen jedoch von der weichen, schwebenden Melancholie Judith Hermanns unterscheidet, sind die verknappte Sprache und die kühle Tristesse, die leider viel zu selten von komischen Szenen aufgehoben wird. Etwa in der Geschichte „Prager Massage“. Ein Masseur belehrt die Kunden erst über den afrikanischen Kommunismus, um anschließend eine Gewaltorgie an ihren Körpern zu zelebrieren. Von seiner Chefin zur Rechenschaft gezogen, sagt er nur: „Diese Leute sitzen zu viel auf ihrem Hintern und verdienen einfach zu viel Geld. Wer zu viel Geld verdient, hat ein schlechtes Gewissen und will dafür eins auf den Arsch.“

JAN BRANDT

Gernot Wolfram: „Der Fremdländer“. DVA, München 2003, 160 S., 17,90 €