Grenzen und Wege

Saison für die Seele: Die Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst in Mecklenburg-Vorpommern wird im Herbst nur noch von Wind und Ostseewellen bestürmt und verführt zu ausgedehnten Wanderungen

von PEGGY WOLF

In Graal-Müritz scheint es, als wäre der Strand endlos. Dass er irgendwo zwischen Ostsee und Himmel einmal endet, ahnt man, sehen kann man es nicht. Acht Kilometer östlich vom Seebad Graal-Müritz liegt Dierhagen. Das Dörfchen ist durch eine Asphaltstraße, Kiefernwälder und Weiden getrennt. So heißt es einmal „Dierhagen Strand“– da sieht man auf die Ostsee, und andermal „Dierhagen Dorf“ – da sieht man auf den Saaler Bod-den. Zwischen beiden Dierhagens liegen drei Kilometer –Fischland.

Einst Insel, wurde Fischland ab dem 15. Jahrhundert zur Halbinsel. Rostocker und Stralsunder Kaufleute befürchteten, der Hafen Ribnitz könnte zu Reichtum gelangen, womöglich größer als der eigene. Denn die Ribnitzer Schiffe hatten aus ihrem geschützten Boddenhafen um Fischland herum einen kurzen Weg zur Ostsee. Im Kampf um diesen wichtigen Handelsplatz gingen die Rostocker und Stralsunder sogar so weit, die Ribnitzer Schiffe in der Meerenge zu versenken. Schließlich wurde die unpassierbar und später aufgeschüttet.

Grenzen und Wege gibt es auf der Inselkette Fischland-Darß-Zingst zu Hauf. In Ahrenshoop beispielsweise steht man mit einem Bein in Mecklenburg, mit dem anderen in Vorpommern. An der Landschaft ändert das nichts. Ahrenshoop war schon lange vor der DDR-Zeit, aber besonders zu dieser, das Bad der Maler, Schriftsteller und Dichter. Sie kamen und kommen vor allem wegen der Steilküste. Wenn dort im Frühjahr und jetzt im Herbst hohe Ostseewellen einfallen, bleiben entwurzelte Kiefern liegen – mal sind sie elfenbeinweiß, mal aschgrau. Was dort geschieht, ist so entrückt, dass das Bewusstsein nicht übersetzt, was das Auge aufnimmt.

Wenige Kilometer von Ahrenshoop entfernt überschreitet man die nächste Grenze – die auf den Darß und damit auch die zum Nationalpark „Vorpommersche Boddenlandschaft“ – jene nach der letzten Eiszeit voll gelaufene Talsenke, die mit der Ostsee verbunden ist. Am Darßer Ort ist das Land zu Ende – ein alter Leuchtturm, 35 Meter hoch, markiert es. Wer jetzt nicht mehr wandern oder per Rad gegen den heftigen Westwind ankämpfen will, kann ins „Natureum“ gehen. Das Heimatmuseum, eine Zweigstelle des Meeresmuseums Stralsund, zeigt Ausstellungen über die Natur des Darßer Orts und die Ostsee-Aquarien.

Vom Darßer Wald sind es drei Kilometer bis Prerow, dem Ort, der sich als erster vom Bauern- und Fischerdorf zum Badeort mauserte. Der Niedergang der Segelschifffahrt machte die Verwandlung 1880 perfekt. Vom Prerowstrom, der einst den Darß und die Insel Zingst trennte und damit Ostsee und Bodden verband, sieht man heute nichts mehr. Nach der Sturmflut von 1872, bei der das Dorf Prerow fast zerstört wurde, entschlossen sich die Altvorderen, den Strom aufzuschütten.

Bis zum Ort Zingst auf der gleichnamigen Ex-Insel spaziert man nun am Strand entlang. Zugig ist es dort, wasserdichte Schuhe, eine Mütze, Handschuhe und Wattepolster in den Ohren sind unbedingt erforderlich. Auch hier schlagen Ostseewellen an und hinterlassen habgierige Spuren. Um diese Zeit, wenn nur noch wenige Touristen da sind, mag man meinen, man hätte das Land für sich.

Über die fast 500 Meter lange Meiningenbrücke geht es vom Zingster Inselzipfel zurück aufs Festland. In Bresewitz muss man sich entscheiden: entweder nach Osten, nach Barth, oder zur alten Hansestadt Stralsund oder, besonders schön, an der Boddenküste entlang nach Bodstedt.

Das kleine Dörfchen ist durch seinen Traditionshafen bekannt. 1905 unterbrachen Bootsliebhaber den Schilfgürtel der Boddenküste für die Hafennische. Dort liegen sie, die bauchigen Zeesenboote. Manche wurden nach alten Plänen neu aufgebaut, bei anderen wurde das Eichenholz restauriert. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren Zeesenboote die Fischerboote des Boddens. Dank ihres geringen Tiefgangs waren sie für das flache Boddenwasser am besten geeignet. Sie trieben quer zum Wind – an beiden Klüverbäumen hingen zuziehbare Netze, die sogenannten Zeesen. In denen blieben Aale, Zander und Hechte hängen.

Heute gibt es in der Region wieder 60 der Traditionssegler. Als kostspielige Liebhaberei: Mehrmals im Jahr finden Regatten statt. Aale, Zander und Hechte werden längst mit Motorbooten gefangen, aber wie früher frisch an Lokale und Gaststätten geliefert.