Jugendwahn ist heilbar

Das erste Mal ist der Horror: psychotisch geworden und in die Psychiatrie eingeliefert. Das Projekt Youngsters will jugendlichen Schizophrenen helfen diese Situation auszuhalten und den Schrecken von Zwangseinweisung und Diagnose zu bewältigen

VON SABINE HENSSEN

„Stich ihn mit dem Messer, sagten die Stimmen. Das ist nicht dein Vater. Und ich ging auf ihn los und folgte den Stimmen der Illuminaten.“ Christian N.* erzählt von seiner Einweisung. „Seit Wochen erhalte ich ihre Botschaften, jetzt handle ich in ihrem Auftrag und richte das Messer auf den, der sich für meinen Vater ausgibt.“

Den literarischen Einstieg in die Psychose von Christian lieferte die Illuminati-Trilogie von Robert Anton Wilson und Robert Shea. Die mehrperspektivische Gedankenwelt der Autoren lässt den Leser am Alltäglichen zweifeln und an ein Paralleluniversum und mächtige, alles lenkende Geheimbünde glauben.

Christian schildert seinen Drogenkonsum. „Ich war ständig breit, Gras, Psychopilze, LSD. Irgendwann im Jahr 2000 merkte ich dann, dass die Menschen in meiner Umgebung beeinflusst werden.“ Die Illuminaten lenkten sie wie Puppenspieler. Dann kamen die Stimmen. Von vorne, von hinten, seitlich in den Kopf. Sein Abi hat er mit 2,8 gemacht, ohne Stimmen wäre es sicher noch besser geworden, sagt er.

Bodenständig wirkt Christian jetzt, sieht jünger aus, als er ist. Was von den Kilos herrühren kann, die er sich nachts vor dem Kühlschrank angegessen hat. Die Medikamente, sagt er, machen Fressattacken. Aber besser dick als verrückt. Kurze, dunkelblonde Haare hat er, keine extravagante Frisur. Äußerlichkeiten sind Nebensache, es gibt ganz andere Probleme zu bewältigen.

Von Drogen und Verschwörungstheorien allein wird man nicht psychotisch. Die Schizophrenie, an der Christian leidet, ist eine weit verbreitete Krankheit. Ein Prozent der Deutschen leidet daran. Die Krankheit ist alt, die Forschung jung. „Wir stehen am Anfang“, sagt Nicole Plinz, 39. Sie hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert und leitet mit ihrer Kollegin Sibille Buschert, 43, Tanz- und Gestalttherapeutin, das Therapie-Projekt Youngsters. Man arbeitet interdisziplinär in der Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Harburg. Gemeinsam versuchen sie den Newcomern in der Psychiatrie das erste Mal zu erleichtern.

„Im Juni 2002 bin ich zwangseingewiesen worden. Ich habe meinem Vater gedroht, dass ich ihn umbringen will, weil ich ihn für den Antichrist halte. Und dann stand plötzlich die Polizei vor unserer Wohnung.“

In Handschellen wird Christian in die Psychiatrie gebracht. Ans Bett fixiert erlebt er seine ersten Stunden auf Station.

Die Unterscheidung zwischen Wahnvorstellung und Wirklichkeit ist bei akuter Psychose nicht möglich. Christian erkennt die Polizisten nicht als solche, sondern als Agenten des Bösen. Er weiß nicht, dass es eine psychiatrische Abteilung ist, die er nicht verlassen darf. Es sind die Illuminaten, die ihn hier festhalten. Und wenn er in ein paar Tagen die Wahrheit erfährt, trägt die Erkenntnis auch nicht zur Beruhigung bei. Oft packt junge Ersterkrankte die pure Verzweiflung, wenn sie realisieren, wo sie sind und warum sie hier sind.

Genau dort setzt das Projekt an. Die Patienten sind zwischen 16 und 25 Jahren. Die schizophrene Psychose ist zum ersten Mal ausgebrochen. Die Angst ist da, nie mehr wieder ein normales Leben führen zu können. So zu werden wie die. „Die“ sind ältere Langzeit-Schizophrene auf der Station. Die machen keine Hoffnung auf Besserung. Aber durch die Konfrontation mit anderen Ersterkrankten der Youngster-Gruppe, die seit einigen Wochen in der Klinik sind oder zu Hause wohnen und ambulant in die Therapie kommen, ist der Blick auf das Raus möglich. Der Schrecken von Einlieferung und Diagnose wird relativiert, weil man die Ängste teilen und die Erfahrungen der Gruppe nutzen kann.

„Wir wollen vermeiden, dass sich der Drehtür-Effekt einstellt. Bevor es zum Rückfall und zur erneuten Einlieferung kommt, sollen sich die Youngsters an uns wenden.“ Nicole Plinz berichtet, dass die Youngsters während der zwei Jahre, in denen das Projekt existiert, ihre Medikamente nicht abgesetzt haben. Und anrufen oder vorbeikommen, wenn sich ein Rückfall anbahnt. „Sie sind in der Lage, sich selbst zu beobachten, und das ist ein riesiger Fortschritt.“ Melden sie sich frühzeitig, kann der erneute Ausbruch von Psychosen abgewendet werden.

Aber so weit war Christian noch nicht. Nach seinen Erinnerungen befragt, erzählt er von Nicole Plinz, „die an meinem Bett saß und fragte, ob ich was erzählen will. Was mit mir sei.“ Plinz und ihre Kollegin Buschert kommen oft ans Bett. „Das machen wir so. Wir versuchen langsam Vertrauen aufzubauen. Es kann manchmal Tage dauern, bis überhaupt eine Reaktion kommt.“

Er erinnert sich genau: „Frau Plinz fragte mich, ob ich vielleicht geheime Botschaften erhalte. Und da wusste ich, dass ich krank bin und warum ich hier bin.“ Plinz hat die richtige Frage gestellt.

Christian erträgt die Station nicht. Die erstbeste Gelegenheit nutzt er zur Flucht. Er entscheidet, die Therapiegruppe ambulant aufzusuchen. Zweimal die Woche kommt er.

Man spricht oft über Ängste, Halluzinationen und wie die Krankheit verläuft. Gemeinsam wird geklärt, was die Begriffe Psychose und Schizophrenie bedeuten. Mit Lehrmaterial, das auch Mediziner nutzen. Absolute Offenheit ist oberstes Gebot. An Gesprächen über Ängste können nicht immer alle teilnehmen. Es kann zu großer Unruhe in der Gruppe führen. „Wenn jemand seine Angst oder seine Halluzinationen schildert, kann ein Zuhörer manchmal nicht zwischen Vorstellung und Realität unterscheiden.“ Das Erzählte wird dann real, die Angst des Erzählers wird zur empfundenen Angst des Zuhörers.

Viele leiden an Angstpsychosen, die mit starkem Bewegungsdrang einhergehen. „Wir fragen immer: Was wollen wir heute machen? Und manchmal gehen wir mit den Neuen einfach nur ein bisschen herum. Das beruhigt.“ Die anderen schreiben oder malen in der Zwischenzeit oder liegen auf dem Boden und hören Musik. Natürlich machen die Therapeutinnen Angebote, aber letztlich sollen die Youngsters entscheiden, was zu tun ist.

Das Malen habe Christian nicht sonderlich gelegen, aber das Schreiben hat ihm gut gefallen. Er hat es beibehalten und begonnen seine Erfahrungen festzuhalten. Ein Buch soll es werden, zur Entstigmatisierung seiner Krankheit beitragen. Er hat gerade den Studiengang gewechselt, Geschichte im Hauptfach mit Philosophie getauscht.

Seit zwei Jahren existiert das Youngsters-Projekt. Rückschläge sind bis jetzt noch keine zu verzeichnen, Erfahrungen noch viele zu machen.

* Name von der Red. geändert