Die Heimtücke im Detail

Nichts Neues in München: Maxim Billers Roman „Esra“ bleibt verboten. Und die Branche rätselt über die Konsequenzen. Denn inzwischen hat das Verbot über den Einzelfall hinaus Bedeutung erlangt

von DANIEL BAX

Entweder ganz oder gar nicht. Das dürfte sich das Landgericht München I gedacht haben, als es den umstrittenen Roman „Esra“ von Maxim Biller nun endgültig wieder aus dem Verkehr zog. Der Roman darf auch nicht in einer „entschärften“ Fassung erscheinen, in der einzelne Passagen herausgenommen oder geschwärzt wurden, wie zwischenzeitlich mal verfügt worden war. Auch dagegen hatten die Klägerinnen, eine Exfreundin Billers und deren Mutter, Einspruch erhoben. Zu Recht, befand das Gericht, nach dessen Ansicht auch diese Version die Persönlichkeitsrechte der Frauen verletzte, die weiterhin als Figuren des Romans erkennbar blieben.

Der Streit könnte sich noch bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, denn es geht ja um Grundsätzliches. Im Fall „Esra“ wertete das Münchener Gericht die Verletzung der Persönlichkeitsrechte schwerer als die Freiheit der Kunst. Doch wo genau zieht es die Grenze, hier und in vergleichbaren Fällen? Schließlich beziehen die meisten Schriftsteller und Autoren ihre Inspiration aus der erlebten Wirklichkeit, die sie zitieren und in ihre Werke einfließen lassen.

Längst hat der Fall „Esra“ über den besonderen Einzelfall hinaus Bedeutung erlangt, da sich aufgrund verletzter Persönlichkeitsrechte inzwischen die Bücherverbote häufen. Erst kürzlich wurde dem Schriftsteller Alban Nikolai Herbst untersagt, aus seinem neuen Roman „Meere“ zu lesen, weil sich eine Exfreundin darin wiederzuerkennen glaubte. Paradoxerweise darf das Buch aber weiter ausgeliefert werden. Und auch gegen die neue Autobiografie von Dieter Bohlen sowie eine Grönemeyer-Biografie wurden einstweilige Verfügungen erwirkt.

Nun mögen für Biografien und Autobiografien ja strengere Maßstäbe in Sachen Faktentreue gelten als für Romane, die ja gerade fiktiv sein sollten; ein deutsches Gericht hat das ganze Genre deshalb kurzerhalb unter die Rubrik Sachbuch eingereiht.

Doch für Romane muss prinzipiell der Grundsatz der Kunstfreiheit gelten. Es kann ja nicht sein, dass jeder, der in einem Roman Spuren seiner Person wiederzufinden glaubt, dagegen ein Verbot erwirken kann: Dann müssten zahlreiche Werke der Weltliteratur aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwinden. Umso wichtiger ist die Begründung, mit der das Gericht die Ausnahme von dieser Regel begründet, wo es die rote Linie zieht: an welchen Stellen es genau den Übertritt von der Fiktion zur problematischen Bloßstellung ausmacht.

Auf Klarnamen hat Maxim Biller ja verzichtet. Ist es also die Nennung der Familienverhältnisse, Berufe und Auszeichnungen, welche seine Protagonistinnen als Personen des realen Lebens identifizieren? Er habe sie „eins zu eins übernommen, bis hin zur Siamkatze“, hatte das Gericht in einem früheren Urteil moniert. Die Heimtücke steckt bekanntlich im Detail. Sind dies also die Tabuzonen, die andere Autoren künftig meiden sollten, wenn sie mit ihren verflossenen Lebenspartnern abrechnen, aber nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen wollen?

Die Branche bleibt weiterhin im Unklaren. Und Billers Verlag Kiepenheuer & Witsch vorerst auf seinen „Esra“-Exemplaren sitzen. Die Auslieferung des Romans liegt schon seit April auf Eis. Bei einer Veröffentlichung droht Kiepenheuer & Witsch eine Strafe von 10.000 Euro.