strübel & passig
: Die Kommandozeile

Wohlmeinende Freunde reden mir seit Jahren zu, ich solle mich doch endlich von der grafischen Benutzeroberfläche unabhängig machen und mit der Kommandozeile anfreunden. Da mein Gedächtnis „auf das kleine Blaue unten rechts klicken“ viel bereitwilliger speichert als borstige Kommandozeilenkonstrukte, bin ich aber bisher uneinsichtig geblieben. Als Nichtraucher habe ich mich in der Uncoolness sowieso schon wohnlich eingerichtet, da kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an.

 Der Kohlenstoffwelt dagegen würde ich lieber heute als morgen das GUI vom Antlitz reißen, um endlich Zugang zu all ihren praktischen Konfigurationsmöglichkeiten zu bekommen. Die Oberfläche der Welt gibt doch leider nur einen Bruchteil dessen preis, was man eigentlich zu ihrer Bedienung wissen müsste – man muss sich das in etwa so vorstellen, wie wenn man den Text einer Website anderswohin kopiert und sämtliche Links irreparabel zu dem unnützen Wort _hier_ zusammenschnurren.

 Dieses _hier_ ist die Welt, wie wir sie sehen; ein flaches, höchstens noch zu Dekorationszwecken zu gebrauchendes Abbild einer wesentlich komplexeren Wirklichkeit. Nur weil man uns, wie Microsoft seinen Kunden, nicht zutraut, mit den vielen verwirrenden Parametern und der mangelhaften Dokumentation zurechtzukommen.

 Zugegeben, es ist praktisch, im Laden intuitiv einkaufen zu können, indem man einzelne Artikel ergreift und in den Einkaufswagen legt, aber wenn die Default-Raufaserskin der Wohnung nervt, würde ich sie schon gern mit wenigen Handgriffen umkonfigurieren, statt wochenlang die alte Tapete zu deinstallieren und Legacy-Produkte von vor dem Ersten Weltkrieg von den Wänden schaben zu müssen.

 Wie entspannend wäre es, direkt in die körperlichen Funktionen eingreifen zu können und z. B. die Zähne zu debuggen oder sich einen dritten Satz einzurichten, statt alle paar Monate der Zahnärztin Root-Rechte zu gewähren. Wie viel Penisverlängerungsspam ließe sich durch einfache SIZE-Änderungen einsparen! Und statt teurer Drogen brauchte man nur ein paar Einstellungen im Wahrnehmungsfilter zu justieren.

 Aber wer brauchte schon teure Drogen, wenn man so viele quälende Erscheinungen des Alltags einfach für immer loswerden könnte. Durchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Beispiel, Baustellenschilder und alle anderen realen Äquivalente der wandernden Windows-Taschenlampe, die einem mitteilen, dass im Hintergrund Dinge passieren, die einen nichts angehen, lange dauern und wahrscheinlich nicht funktionieren werden.

 Oder die zäh dahinkriechende Fortschrittsleiste, die bei 96 Prozent die Applikation beendet respektive das Amt schließt. Die weitgehend contentfreie und ohne die neueste Flashversion unbrauchbare Klickibunti-Hölle um den Potsdamer Platz und überhaupt alle lästigen animierten Blinkelemente.

 Ach, es wäre ein wunderbares Leben, auch wenn man mehr Zeit als bisher dafür aufbringen müsste, es nach Wunsch zu konfigurieren und ausgefeilte Bans auf alle Personen zu setzen, die man nie mehr sehen oder zwar sehen, aber nicht mehr hören möchte. Obwohl die sich dann vermutlich in zufällige Zeichenketten umbenennen würden, um einem weiterhin auf die Nerven zu fallen. Aber egal, ich will die Kommandozeile fürs Leben und ich weiß jetzt auch, wo man sie herkriegt: _hier_. KATHRIN PASSIG

kathrin@kulturindustrie.com