„Der Tod stellt einen Aufbruch dar“

Tim Renner

„Früher diskutierten wir stundenlang, was für ein Masterplan hinter der Musikindustrie steht. Wenn Sie aber in großen industriellen Systemen ankommen, ist die Überraschung groß: Den Masterplan gibt es gar nicht“

Ob Element of Crime oder Phillip Boa, ob U2 oder Portishead: Tim Renner, 1964 in Berlin geboren, hat mit den Leuten gearbeitet, die andere nur aus ihrem CD-Regal kennen. Nach einer kurzen journalistischen Karriere stieg er 1986 bei Polydor ein. Renner gründete eine eigene Plattenfirma, die Motor Music GmbH, bevor er 1998 Chef der deutschen Abteilung von Universal Music wurde. Seit Anfang des Jahres ist er das nicht mehr. Zur Popkomm ein Gespräch über den Bruch mit Universal, Koks und sein Buch, in dem Renner über die Zukunft der Musikindustrie schreibt.

Interview FALKO HENNIG

taz: Herr Renner, Ihr Buch heißt „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!“ Warum ist Sterben schön?

Tim Renner: Sterben kann dann schön sein, wenn man sich als Teil eines größeren Ganzen begreift. Nur wer nicht an Kreisläufe und Vernetzung glaubt, hat mit dem Tod ein Riesenproblem.

Was ist Ihre Theorie vom Sterben?

Der Tod stellt automatisch auch einen Aufbruch dar. Er ist Anfang von etwas anderem, entsprechend ist Sterben die Grundlage einer neuen Geburt – und deshalb immer spannend.

Beginnen wir bei Ihrem wichtigsten Anfang. Wie kamen Sie zur Musik?

Über meinen älteren Bruder. Er hörte Black-Music, ich wollte und musste mich von ihm abgrenzen. Punk war die letzte Jugendbewegung, die Rock’n’Roll retten wollte. Die schiere Energie und Gewalt passte so gar nicht zu seinen „Earth, Wind & Fire“-Platten. Punk war als Provokationsmittel zudem attraktiv, wenn man sich in einem linksliberalen Umfeld bewegte wie ich – alles, was kulturell sehr elaboriert schien, wurde aufgegriffen und extrem verdichtet.

Sahen Sie aus wie ein Punk?

Ich habe es versucht. Ich habe mir zum Beispiel eine Sicherheitsnadel in den Mund gestochen. Es gibt da einen einfachen Trick: Wenn Sie so eine Sicherheitsnadel nehmen und sie in den Mund einführen, dann piekt sich das obere Ende automatisch von außen in die Wange rein und die Nadel bettet sich hier wunderbar in Ihr Mundfleisch ein. Sie sitzt fest und sieht komplett wie geschlossen aus. Man kann sogar noch mehrere Dinger dran hängen, kein Problem. Das einzig Unangenehme waren die vielen Rentner, die mitleidig fragten: „Tut das nicht weh?“

Als Sie noch als Moderator beim NDR arbeiteten, spielten Sie Songs, die aus Eisenhüttenstadt in den Westen geschmuggelt worden waren – auf Kassetten in Seife. Was war das für Musik?

Das waren „Müllstation“ und „Tapetenwechsel“, die beiden führenden Punkbands in Eisenhüttenstadt. Im NDR bekam ich erst Briefe von denen, die weckten mein Interesse. Als 16-Jähriger bin ich für Sounds rüber gefahren. Ich habe mich mit den Leuten bewusst am Palast der Republik getroffen – also so auffällig wie möglich, in der legendären Milchbar. Einen Zugriff haben sich die Volkspolizisten dort nicht getraut. Sobald wir den Palast verlassen hatten, wurden wir prompt an der Weltzeituhr verhaftet. Ich bin deshalb dreimal drüben gewesen und jedes Mal aufgegriffen worden. Die DDR konnte nicht verstehen, dass sich ein 16-jähriger Westler für diesen Krach und die Leute mit den schlechten Frisuren interessierte. Die gingen immer von Drogen aus.

Als Journalist recherchierten Sie einmal beim Plattenkonzern Polygram für eine Enthüllungsstory über das Musikgeschäft. Haben Sie in Ihrem Buch diese Story nachgeliefert?

Nein. Eine Enthüllungsgeschichte ist erst spannend, wenn man ein böses Komplott aufdeckt und ein verwobenes Spinnennetz entwirrt: Ah, da ist die böse Spinne in der Mitte und alles hängt damit zusammen. Wenn ich da dran ticke, merkt sie das. Diese Komplexität hat es bei den großen Schallplattenfirmen nicht gegeben. Dort, wo die Branche unterhaltsam wird, ist sie nicht böse – sondern bestenfalls blöde. Das kann man zwar mit einer gewissen Schadenfreude beschreiben, aber wenn das Buch nur darauf basieren würde, wäre es erstens ein bisschen billig und zweitens nicht wirklich unterhaltsam.

Ist die Vorstellung von krakenartigen Musikkonzernen also ein Mythos?

Ich habe auch viel Lebenszeit damit verbracht, ernst Teetassen, später Biergläser in der Hand zu halten und mit Leuten darüber zu philosophieren, was der böse wirtschaftliche Komplex jetzt damit eigentlich meint. Wir diskutierten stundenlang, was dahinter für ein Masterplan steht. Wenn Sie aber in großen industriellen Systemen ankommen, ist die Überraschung groß: Den Masterplan gibt es gar nicht.

Sondern?

Vieles hängt an Zufällen, an Einzelpersonen und Eitelkeiten. Alles ist bei weitem nicht so durchdacht, geplant und mit einem definierten Ziel versehen, wie man sich das als Linker gern in einer Verschwörungstheorie zurechtschiebt. Die Verschwörungstheorien der deutschen Linken sind viel komplexer und intelligenter als die Realität der Wirtschaft.

Am Mittwoch startet die Popkomm erstmals in Berlin. Bedeutet das für die Messe neuen Schwung?

Die Kölner Popkomm hatte sich überholt, Berlin bietet die Chance eines neuen Starts und zumindest die Wahrscheinlichkeit eines „neuen Schwungs“. Die neue Heimat der Popkomm hat alles, was die Musikbranche braucht: Ideen, Freiräume, Offenheit und den Mut der Verzweifelten. All das liegt nicht nur an der Geschichte, an Krieg und Wiedervereinigung, sondern auch an der medialen Infrastruktur. Ich brauche gerade für eine Musikwirtschaft im Umbruch die Veränderung – Ideen, die ständig neu rein kommen. Wichtig ist auch eine Einstellung, die offen für Neues ist. Die kriegen Sie in Berlin leichter hin.

Warum?

Das liegt neben der Geschichte an der Infrastruktur der Stadt. Die Radiosender machen fast alles musikalisch Mögliche, sie bieten viel mehr Vielfalt als anderswo. Das ist eine ganz andere Wirklichkeit, in der ich meine Leute arbeiten lasse, als eine Radiolandschaft wie beispielsweise in Hamburg, wo nur Hot AC, also relativ gesichtsloser Mainstream-Pop, zu hören ist – immer mehr von immer demselben. Das entmutigt doch jeden, der für die Musikwirtschaft nach Talenten sucht, was Neues unter Vertrag zu nehmen.

Wie endete Ihre Beschäftigung bei Universal – haben Sie gekündigt, oder wurden Sie gefeuert?

Weder, noch. Es gibt Situationen im Leben, wo man sagen muss: Bis hierhin und nicht weiter. Dieses klassische „Nur über meine Leiche“ ist natürlich immer mit der Hoffnung verbunden, dass die andere Seite betrübt zu Boden guckt, ihre eigenen Pläne unterm Tisch zerreißt und die Schnipsel im Papierkorb platziert. Genau das hat sie nicht getan.

Also gefeuert?

Es war eher so: Ja, dann tut’s uns leid, das wird umgesetzt. Insofern ist die Antwort: weder, noch. Ich stand nicht da, und zeigte ihnen den Stinkefinger. Aber ich bin auch nicht als geprügelter Hund vom Hof geschickt worden.

Wie sieht die Musikindustrie der Zukunft aus?

Von der Idee des klassischen Plattenlabels müssen wir uns verabschieden. Als Firma, die einfach nur CDs macht, sie dann promotet, vermarktet und gut ist. Die Musikwirtschaft muss sich als wirkliche Musikwirtschaft begreifen. Das ist ja in Deutschland ein 8-Milliarden-Euro-Markt, wenn man zusammenrechnet, was alles dazugehört: Live, Merchandising, Aufführung und so weiter. Dieser Gesamtmarkt entwickelt sich sogar positiv. Probleme hat lediglich der Tonträger, da ist Holland allerdings wirklich in Not.

Wie müssen sich die Konzerne weiterentwickeln?

Die Musikwirtschaft muss mit den Musikern Marken entwickeln, diese voll verwerten und betreuen. Erweiterte Rechte wird sie aber nur bekommen, wenn sie auch Service bietet. Ein Manager muss in verschiedenen Segmenten Ahnung haben, seine Leute im Bereich Live sehr gut betreuen, ihnen gute Deals besorgen, muss aber auch wissen, wie der Künstler mit Merchandising Geld verdienen kann. Es ist wichtig, den Musiker ganz anders zu beteiligen. Ihm stehen eigentlich die Hälfte aller Einkünfte zu, er sollte Geschäftspartner in einem gemeinsamen Label sein. Wenn das die Musikwirtschaft kapiert, hat sie hervorragende Chancen.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung?

Sie reduziert alles auf Nullen und Einsen, was unheimlich viele Chancen birgt. Das ist ja bekannt: Produktion und Distribution werden viel günstiger. Ich brauche also nicht mehr zwingend Kapital und einen Apparat, Ideen und Skills werden wichtiger. Diesen Paradigmenwechsel muss man verstehen. Es ist längst Unsinn, mit viel Geld einen Riesenapparat aufzubauen. Die Musikwirtschaft sollte sich anders fokussieren. Sie muss sich darauf konzentrieren, Kreativität abzubilden, zu fördern und in schlanken Strukturen für Kommunikation zu sorgen.

In der Musikindustrie wird viel Kokain konsumiert, lautet ein gängiges Klischee. Stimmt das?

Ich würde das Thema nicht auf die Musikindustrie beschränken. Der ganze Komplex Medien hat Drogenprobleme. Nur was genommen wird, hat sich geändert. Heutzutage konsumieren die Leute mehrheitlich Alkohol und Hasch, auch in der Musik. Aber die 90er waren die großen Koksjahre. Das war sehr massiv, teilweise auch bei den Journalisten. Ich habe mich dem immer entzogen.

Aber Sie haben es mitbekommen?

Wenig, das passierte dann eben nicht, wenn ich dabei war. In meiner Firma, der Motor Music GmbH, habe ich diesbezüglich ein relativ striktes Regime geführt, übrigens erfolglos. Wir hatten eine mindestens genau so hohe Kokain-Durchseuchungsquote wie jedes andere Label auch. Es gibt immer solche Drogenwellen – die Musik hat auch viel mit der jeweils führenden Droge zu tun.

Wie beeinflussen Drogen die Musikkultur?

Es gibt immer einen kausalen Zusammenhang von Droge und Musik. Aber das ist nicht überraschend, schließlich ist Popmusik eine Kulturgattung, die sich ständig durch Jugendkultur erneuert. Denken Sie zum Beispiel an Ecstacy und Techno.

Wie äußert sich der Zusammenhang heute?

Marihuana ist die dominierende Droge, es gibt eine richtiggehende Kifferkultur. Als Musikmanager wünscht man sich da fast das gute alte Koks zurück. Künstler, die koksen, schlagen alle drei Tage mit einer neuen Idee in Ihrem Büro auf. Klar, viele davon sind halbgar. Aber Kiffen bewirkt das Gegenteil, die Leute stellen sich selbst ruhig. Das sieht man am deutlichsten im HipHop-Bereich, wo gerade mal alle vier Jahre eine neue Platte kommt. Da möchte man am liebsten heimlich über den Ventilator ein bisschen Koks in den Proberaum pusten: Nun mal ein bisschen schneller hier!

Ist das ein Plädoyer für Drogenkonsum?

Natürlich nicht. Wobei weiche Drogen wie Marihuana nur durch ihre Illegalität gefährlich werden. Mit Zeugs wie Koks ist selbstverständlich nicht zu spaßen.