Der Fahrradflüsterer

Qaher Hazrat hat vor acht Jahren bei einer Minenexplosion in Kabul beide Unterschenkel verloren – heute arbeitet er als Fahrradkurier und will Gold im Straßenradrennen bei den Paralympics gewinnen

AUS ATHEN JÜRGEN ROOS

Wenn die Lautstärke der Stimme ein Gradmesser dafür ist, wie beeindruckt ein Mensch gerade ist, dann war Qaher Hazrat dieser Tage in Athen schwer beeindruckt. Mit großen Augen saß der 22-jährige Mann aus Afghanistan in den Katakomben des Olympiastadions, und es war kaum zu verstehen, was er sagte. Er flüsterte und schaute immer wieder besorgt zu Mareena Karim hinüber. Seine 14-jährige Teamkollegin hatte gerade ihren 100-Meter-Lauf bei den Paralympics hinter sich und war in Tränen ausgebrochen. Umringt von 20 Fotografen schluchzte die teil-amputierte Sprinterin, und es war nicht auszumachen, ob sie überwältigt war oder einfach nur enttäuscht, dass sie 30 Meter hinter den anderen durchs Ziel gelaufen war. „Ich mache mir große Sorgen um sie“, flüsterte Qaher Hazrat.

Derweil sprach der afghanische Delegationsleiter Abdul Baseer in die Mikrofone, was die Reporter lieber von dem Mädchen selbst gehört hätten. Dass es ein langer Weg hierher war für die afghanischen Sportler, dass Mareena Karim der wahre Champion von Athen sei und dieser Tag ein großer in der Geschichte Afghanistans. Qaher Hazrat hätte die Kleine wohl am liebsten geschnappt, sie hinten auf sein Rad gesetzt und wäre einfach nur losgefahren. Ging aber nicht – Hazrat hatte sein Rad nicht dabei. Die zwölf paralympischen Tage sind eine anstrengende Zeit für die zwei Sportler aus Afghanistan – aber trotzdem immer noch irgendwie besser als zu Hause in Kabul.

Der an beidseitig unterschenkelamputierte Hazrat fuhr am Samstag das Straßenradrennen und geht heute beim Zeitfahren an den Start. „Ich will eine Goldmedaille“, sagte Hazrat mutig. Eine optimale Vorbereitung waren die Tage vor den Rennen nicht. Qaher Hazrat flüstert weiter. Dabei dreht er unaufhörlich eine kleine afghanische Nationalflagge in seinen Händen. Vor acht Jahren ist Qaher Hazrat auf eine Mine getreten und hat dabei beide Unterschenkel verloren. „Zuerst habe ich gedacht, ich bin tot“, sagt er. Dass es der Beginn eines neuen Lebens war, konnte der damals 14-jährige Junge nicht wissen. Denn zunächst galt er als unnützes Mitglied einer Großfamilie, die in den Außenbezirken von Kabul lebt. Dann sah er einen beinamputierten Jungen auf dem Fahrrad und erfuhr, dass man das irgendwo in der Stadt lernen könne und dazu auch noch ein Rad bekomme.

So gelangte Qaher Hazrat zu Abdul Baseer. Einem Arzt, der eine Hilfsorganisation gegründet hatte, die den Bandwurmnamen „Afghan Amputee Bicyclists for Rehabilitation and Recreation“ trägt. Dort lernte er Rad fahren, bekam ein Rad, neue Hoffnung – und schließlich sogar einen Job. Er ist heute einer von 14 behinderten Radkurieren, die Briefe, Päckchen und manchmal sogar eine Pizza durch die Straßen von Kabul transportieren.

Er erzählt: „Der Verkehr ist enorm, die Autofahrer sind rücksichtslos, aber wir schlängeln uns durch. Und wenn von hinten einer kommt, fahren wir schnell in eine Parklücke.“ Acht Stunden arbeitet Hazrat pro Tag und ernährt so sieben Brüder, eine Schwester und seine Eltern. Aus dem Außenseiter ist plötzlich das wichtigste Mitglied seiner Familie geworden.

Qaher Hazrat flüstert weiter. Die Lage in Kabul sei immer noch gefährlich. Und die Sport- und Trainingsmöglichkeiten im Vergleich zu denen hier in Athen seien so gut wie nicht vorhanden. Es muss improvisiert werden, und Hazrat hofft, dass sich die Lage irgendwann bessert: „Es wäre super, wenn unser Auftritt hier bei den Paralympics jemanden auf unsere Probleme aufmerksam machen könnte.“

Abdul Baseer, der Arzt und Delegationsleiter, geht davon aus, dass vier Prozent der 22 Millionen Afghanen behindert sind. Nicht nur, aber vor allem wegen der andauernden Kriege. Viele junge Menschen seien betroffen. Wie Qaher Hazrat, der sich gerne mehr um seine Ausbildung und seine Sportkarriere kümmern würde. Aber wie soll das gehen, wenn er acht Stunden pro Tag bei der Arbeit ist. Immerhin hat er den Vorteil, dass sein Job so etwas Ähnliches wie Training ist.

Als Botschafter seines Landes fühlt sich Qaher Hazrat bei den Paralympics in Athen nicht. Aber eine Botschaft hat er doch. „An alle Fabriken in allen Ländern, die Minen produzieren: Hört auf damit!“, sagt er. „Sie müssen doch wissen, dass damit Menschen getötet werden.“ Bei diesen Sätzen wird der Mann aus Afghanistan für seine Verhältnisse richtig laut. Es ist ein inniger Wunsch, der auch heute wieder mit dem jungen Sportler auf die Paralympics-Rennstrecke geht.