Die weite kasachische Steppe

Astana, die Regierungsstadt in der Steppe, soll vom neuen Reichtum Kasachstans künden. Seit der Unabhängigkeit 1991 hat sich der Anpassungsdruck vor allem auf Russen umgekehrt, was zur Emigration vieler Nichtkasachen geführt hat

von HANS VON SUCHODOLETZ

Untentwegt rattern die Schwellen ihr monotones Tack-tack. Links und rechts des mit behäbigem Tempo rollenden Zuges seit Stunden das gleiche Bild: die weite kasachische Steppe, nur selten unterbrochen von trockenen Gebüschen oder sogar einem kleinen Dorf mit einigen Häusern. Darüber der strahlend blaue Himmel mit einer Sonne, die das Land ausdörrt. Weit und breit kein Halt für das Auge. Schließlich erste Hügel, endlich Berge in satterem Grün. Wir erreichen Ust-Kamenogorsk, eine Stadt im Osten des Landes am Altai: Rauchende Schornsteine und gewaltige Halden zieren die Silhouette, und über den Boulevard spazieren Mädchen mit hochhackigen Schuhen und kurzen Röcken. Russische Popmusik schallt über den Boulevard.

Wir sind eingeladen bei Irina, einer Mittvierzigerin. Sie und ihr Mann Sergej gehören zu der starken russischen Minderheit, die vor allem im industrialisierten Norden und Osten des Landes wohnt. Daher ist Irina auch skeptisch, was die Zukunftschancen ihrer Söhne angeht: „Seit Jahren wird der Druck auf uns Russen stärker. Der Staat stellt fast ausschließlich Kasachen nur wegen ihrer Nationalität ein, und demnächst sollen alle offiziellen Dokumente nur noch auf Kasachisch vorliegen. Dabei beherrschen doch auch viele Kasachen hier ihre Sprache nicht.“ Ob sie Kasachisch könne, frage ich. Nein, nur einige Brocken, aber ihre Söhne lernen es gerade mühsam in der Schule. Sie wünscht sich vor allem, dass Russisch endlich zweite Staatssprache wird wie vor einiger Zeit im benachbarten Kirgisien.

Ansonsten ist ihr Politik egal. Das ist verständlich, lässt sich doch Präsident Nasarbajew, Anfang der 90er-Jahre noch demokratischer Hoffnungsträger im Westen, inzwischen wieder mit über 90 Prozent der Stimmen wählen und die Opposition verfolgen. Wir treffen Zhulduz, eine kasachische Studentin Anfang zwanzig. Ob sie uns denn die kasachische Inschrift auf einem Plakat übersetzen könne, das offenbar staatliche Propaganda für das kürzlich vom Präsidenten verkündete Programm „Kasachstan 2030“ enthält? Sie lacht und verneint: „Nein, ich bin zwar Kasachin, spreche aber nur Russisch. Hier haben immer die verschiedensten Völker miteinander gelebt. Mein Großvater zum Beispiel war Tatar. Auch Deutsche gab es viele. Aber die sind jetzt fast alle bei euch in Deutschland.“ Sie fragt uns, ob wir Abaj Kunanbajew kennen, was wir verneinen. Das kann sie kaum glauben, Abaj Kunanbajew sei schließlich ein Schriftsteller der Weltliteratur und er sei Kasache und komme nicht weit von hier aus der Nähe von Semipalatinsk. Dort gebe es ein Museum für ihn, das wir uns anschauen sollten. So fahren wir in jene Stadt, die wir bisher nur wegen ihres ehemaligen Atomtestgeländes und als Verbannungsort Dostojewskis kannten.

Das Museum ist ein pompös ausgestatteter, fast religiöser Schrein über das Leben eines Mannes, der die Weltliteratur um viele Werke bereichert haben soll. Hier liegt offenbar ein besonders groteskes Beispiel der Selbstdarstellung einer lange unterdrückten Nation vor. Jahrelang war Kasachisch verpönt und der Russifizierungsdruck stark. In den 30er-Jahren wurden die mit ihren Herden durch die Steppe ziehenden Kasachen von der Sowjetmacht zur Sesshaftigkeit gezwungen, was Millionen Opfer unter ihnen forderte. Seit der Unabhängigkeit 1991 hat sich der Anpassungsdruck umgekehrt, was in den letzten Jahren zur Emigration vieler Nichtkasachen geführt hat.

Nach Jahren des Niedergangs hat sich der Lebensstandard in vielen Gegenden des Landes seit Ende der 90er-Jahre langsam erhöht. Industrien wie die Erzverarbeitung hier in Ust-Kamenogorsk arbeiten wieder, jetzt allerdings oft als Teil ausländischer Konzerne. Überall in den Städten sieht man Baustellen, wo Straßen und öffentliche Gebäude oft mit einfachen Mitteln renoviert werden. Es bildet sich eine Mittelschicht, die Geld hat und dies auch zeigt. Die eigentliche Hoffnung des Landes jedoch kündigt sich schon von weitem mit einer Hochhaussilhouette mitten in der Steppe an. Eine Fata Morgana? Nein, wir nähern uns der neuen Hauptstadt. Lange hieß diese vergessene Steppenstadt Zelinograd. Erst 1997 wurden Regierung und Parlament auf Beschluss des Präsidenten vom südlichen Almati hierher verlegt, die Stadt wurde in Astana umbenannt. Vom Bahnhof geht die Fahrt mit dem Sammeltaxi ins Zentrum vorbei an sozialistischen Plattenbauten und Holzhäusern. Dann plötzlich riesige Fassaden aus Glas und Stahl – Hochhäuser blicken auf uns herab. Doch man sieht kaum Menschen, alles wirkt relativ leer. Hier hat der Staat offenbar viel Geld in Repräsentation investiert. Woher und warum? Die Antwort ist einfach: Kasachstan soll das neue Kuwait werden. Im Westen des Landes am Kaspischen Meer wurden riesige Ölvorkommen gefunden, die viel Geld ins Land bringen sollen.