„Die Leute haben die Passkontrollen geliebt“, sagt der Schriftsteller Henning Mankell

Die EU ist eine gute Idee – aber den Menschen fehlt etwas. Wenn Grenzen fallen, entstehen Ängste

taz: Können Sie sich erklären, weshalb man Sie als Kronzeugen einer europäischen Stimmung der Melancholie zitiert?

Henning Mankell: Nein, wirklich nicht. Aber ich denke, dass sich viele Menschen in meinen Figuren wiedererkennen. Dabei versuche ich nur, aufzuschreiben, was aufzuschreiben ist – was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Ihre Romanfiguren neigen zum Depressiven. Warum?

Menschen sind nun einmal manchmal traurig. Oder leiden unter Stress. Ich selbst empfinde mich als zuversichtlichen, fröhlichen Menschen.

Viele Schweden haben Sie gefragt, was Ihre Romanfigur, der Kommissar Kurt Wallander, zur Abstimmung über den Euro in Schweden gesagt hätte.

Oh ja, solche Fragen gab es. Und ich hätte gesagt, keine Ahnung. Ich war vor vielen Jahren gegen den Beitritt Schwedens in die EU. Aber ich habe das Votum für die EU damals akzeptiert. Heute wäre ich für den Beitritt Schwedens zum Euro gewesen.

Weshalb?

Weil man sich entscheiden muss: Wenn man drin ist, sollte man alles mittragen. Ich sehe natürlich auch die Gefahr, dass die EU bürokratisch und elitär wird – aber man muss sich dafür einsetzen, dass es nicht so wird.

Wobei die EU ja auf dem Balkan bei der Durchsetzung von Menschenrechten versagt hat – und die USA eingreifen mussten.

Ja, leider, aber wie sollte es anders sein? Europa leidet an einer Identitätskrise, die sich in der Politik gegenüber Jugoslawien bemerkbar gemacht hat. Man hat nicht erkennen wollen, dass es ohne militärische Mittel nicht gegangen wäre. Mag sein, dass dies Ausdruck dieser Identitätskrise war. Keiner weiß, was es genau bedeutet, ein Europäer zu sein. Und man darf nicht vergessen, dass viele Menschen darunter leiden, dass die Grenzen innerhalb der EU gefallen sind. Früher musste man seinen Reisepass vorzeigen, wenn man ins Ausland fuhr und wieder nach Hause kam. Die Menschen liebten diese Gesten der Passkontrolle – sie waren Symbole dafür, dass man wieder zu Hause ist.

Die Demontage des Nationalstaats – war das nicht stets ein Ziel der Linken?

Nicht immer, denn man sollte nicht vergessen, dass Europa ein Projekt ist, das von einer Schere geteilt wird: Hier die Menschen, die sich viel leisten können und keine Angst haben vor fallenden Grenzen, dort jene Menschen, die sich vor dem Neuen fürchten – auch weil ihnen die Mittel fehlen, es auszuprobieren. Arbeitslosigkeit, das darf man nie vergessen, ist fürchterlich.

Die Globalisierungsfreunde sagen, dass die Welt kleiner geworden ist. Das ist ein Irrtum. Die Welt wird durch die neuen Medientechniken nicht kleiner, sondern größer.

Wie meinen Sie das?

In Mosambik habe ich mal einen Ausflug auf eine Insel gemacht, die vor Maputo liegt. Dort guckte ich mich um … und in einiger Entfernung stand eine Gruppe von jungen Menschen und beobachtete mich. Unentwegt. Und ich wusste nicht, weshalb. Niemand kam näher. Es irritierte mich enorm, dass von ihnen überhaupt kein aggressive Geste ausging. Dann kam eine junge Frau näher und meinte, ich solle sie küssen.

Sie waren erschrocken.

Oh ja, also fragte ich, warum ich das tun solle. Sie meinte, hier auf die Insel kämen jetzt so viele Zeitschriften mit schönen Menschen – Magazine der westlichen Welt. Und darin stehe immer etwas vom Küssen, das man mache, wenn man sich verliebt. Aber das sei auf der Insel nicht üblich. Und nun wolle sie einfach wissen, wie das geht.

Für was steht diese Geschichte?

Ich will damit sagen, dass unsere Mobilität – ob wir selbst reisen oder mit Medien Reisen unternehmen – uns lehrt, dass woanders nicht alles ist wie das, was man kennt. Und deshalb wird die Welt nicht kleiner, sondern größer.

Hat Ihr Leben in Afrika, vor allem in Mosambik, Ihren Blick auf Europa verändert?

Ja. Zunächst war Afrika, als ich es 1972 erstmals besuchte, nur interessant, ohne dass ich an Europa viel dachte. Aber inzwischen denke ich, dass ich den Kampf um Demokratisierung, der in Europa seit Beginn der Industrialisierung gekämpft wird, sehr wertschätze. Europa hat in vielen Jahren etwas gelernt, was nicht wahrscheinlich war. Es gibt bei uns viele Mängel, aber es funktioniert.

Und der Blick auf Afrika?

Ein Kontinent, der diesen langen Prozess noch vor sich hat – und Europa sollte wissen, wie schwierig dieser Prozess verläuft. Jetzt es ist so, dass westliche Beobachter dorthin kommen und sagen, na, dann macht mal Wahlen. Und in zehn Jahren soll alles auf dem Entwicklungsniveau wie im industrialisierten Westen sein. Die Menschen in Afrika verstehen oft nicht, wie komplex Gesellschaften funktionieren – in Europa wird oft nicht mal verstanden, dass demokratische Verhältnisse alphabetisierte Verhältnisse zur Voraussetzung haben.

Sie werden gern als Kronzeuge für die Verrohung schwedischer Verhältnisse herangezogen. Mögen Sie diese Rolle?

Nein, gar nicht.

Der Mord an Anna Lindh gilt als Beleg für die wachsende Gewalt in Schweden.

Ich stimme dieser These nicht zu. Anna Lindh, deren tragischer Tod uns alle traurig macht, ist offenbar Opfer eines Verrückten geworden. Eines Mannes, der besser in der geschlossenen Psychiatrie aufgehoben gewesen wäre. Aber es gab zu wenig Geld für die entsprechenden Programme Das ist das Groteske an dem Mord. Er wäre vielleicht nicht geschehen, wenn wir mehr Geld für Psychiatrien ausgegeben hätten. Schweden ist nicht aggressiver geworden. Im Mittelalter oder noch vor hundert Jahren war es viel gefährlicher, in Stockholm zu leben.

INTERVIEW: JAN FEDDERSEN