Die Revolution im Himmel

Ungeläutert und manchmal etwas pantoffelig erinnert sich der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal an Sieg und Niedergang der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Was der größte Fehler der Revolution gewesen sei? „Die Tatsache“, so Cardenal, „dass sie von Menschen gemacht war“

Manchmal meint man einen Anflug von Ironie zu entdecken.Jedoch: Die Autobiografie von Ernesto Cardenal ist zutiefst unironisch

VON CHRISTOPH TWICKEL

Es gibt großartige Momente in diesem Buch. Die Schilderung des Papstbesuchs am 4. März 1983 gehört dazu: Johannes Paul II. will auf dem Platz vor der Kathedrale in Managua eine Messe lesen. Ernesto Cardenal, der als Priester für die Revolution gefochten hatte und damals Kultusminister war, sitzt mit den Comandantes der Frente Sandinista auf der Tribüne. 700.000 Menschen sind aus allen Landesteilen in das von Erdbeben und Bomben zerklüftete Managua gepilgert und warten bei 40 Grad auf die Predigt des Stellvertreter Gottes.

Der Papst hat Cardenal, den populären Priester mit der Kalaschnikow, bereits am Flughafen wegen seines politischen Amts in der Revolutionsregierung gerüffelt. Und sein Bedauern darüber kundgetan, dass so viele Christen am Kommen gehindert worden wären. Tatsächlich hatte die sandinistische Regierung jede Anstrengung unternommen, um die Menschen heranzukarren, denn man war der Meinung, „ein Platz voller Menschen hieße ein Platz voller Revolutionäre“. Zur Eröffnung der Messe nun begrüßt der konservative Bischof Obando y Bravo, ein Erzfeind der Sandinisten, den Papst und vergleicht Nicaragua dabei mit einem Gefängnis. Die Menge applaudiert. „Sollte sich das Volk gegen uns gekehrt haben?“, fragt sich Cardenal. Dann verliest der Papst in zeterndem Ton eine Predigt, welche die Befreiungstheologen beschuldigt, die Einheit der Kirche zu gefährden. Wieder feiert die Menge jeden Satz mit Hochrufen. „Später erfuhr ich“, so Cardenal, „dass die politische Führung Anweisung gegeben hatte, keine politischen Parolen zu rufen, sondern nur den Papst zu bejubeln und allem, was er sagte, zu applaudieren.“ Doch schließlich verstummen die Zuhörer, bis auf etwa 50.000 konservative Christen vor der Tribüne. Nach etwa 20 Minuten beginnt sich Unmut zu regen, und Sprechchöre rufen „Wir wollen den Frieden!“, dann „No pasarán!“ und schließlich „Poder Popular!“ – „Volksmacht!“ Der Papst versucht, die Menge zu beschwichtigen, brüllt „Ruhe!“ ins Mikrofon und kommt am Ende kaum dazu, den päpstlichen Segen zu erteilen, während die Menschen unter ihm bereits die Hymne der FSLN anstimmen.

„Zum ersten Mal in der modernen Geschichte war ein Papst so gedemütigt worden“, schreibt Ernesto Cardenal, und man möchte rufen: Mach’s noch mal, Volk! Schon um der sentimentalen Aura zu entkommen, die die Autobiografie des weißhaarigen Befreiungstheologen umweht, dessen politischer Stern erloschen ist, seit die Nicaraguaner, zermürbt von Contra-Krieg und US-Embargo, die Sandinisten 1990 einfach abwählten. Der aus der FSLN austrat, als klar wurde, dass seine Genossen ihren Abgang zum Anlass nahmen, sich am Volksvermögen nach Kräften zu bereichern. Der heute zurückzogen von den Erlösen aus seinen Büchern lebt, allenfalls gestört von übereifrigen Journalisten auf der Suche nach einem Skandälchen. Ein Spiegel-Korrespondent reiste unlängst auf die Insel Solentiname, wo Cardenal 1966 eine christliche Gemeinschaft gründete, die später eine Keimzelle der Revolution werden sollte. Was er dort fand, war ein heruntergekommenes Gemeindezentrum und jede Menge Nachbarschafts- und Familienstreit. Die Geschichten über den despotischen Inselherrn Ernesto Cardenal, die ein Schweizer Journalist verbreitet hatte, bestätigten sich jedoch nicht.

Nein, Cardenal ist sauber geblieben. Er hat sich nicht bereichert, nicht die Revolution verraten, sie nicht zur Sprungschanze für eine politische Karriere im Apparat gemacht. Das ehrt ihn, den gewesenen Revolutionär, und macht seine Erinnerungen zu schadstoffarmer Erbauungslektüre für linke Menschen, die sich, je ungemütlicher die Gegenwart, desto lieber von der guten alten Zeit erzählen lassen. Damals, als Christen und Marxisten gemeinsam zu den Waffen riefen, um den Diktator Somoza aus dem Land zu jagen. Damals, in den Tagen des compañerismo, als Indigene und Intellektuelle, Bauern und Dichter Seit an Seit für eine andere Gesellschaft fochten. Damals, in den Tagen der Nicaragua-Solidarität, als europäische und US-amerikanische Rucksackrevolutionäre in Scharen am Flughafen von Managua eintrafen, um als Kaffeepflücker oder Häuslebauer der Revolution zu dienen und als menschliche Schutzschilde in den grenznahen Dörfern dem Contra-Krieg zu trotzen.

Ich erinnere mich, wie ich 1988 als 22-Jähriger im schon ziemlich ausgezehrten Managua das Aufeinandertreffen von Internationalisten und nicaraguanischer Realität erlebte. Der Grad der Solidarität mit der Revolution entschied sich seinerzeit nicht zuletzt an der Frage, ob man seine Dollars zum offiziellen Kurs eins zu eins oder auf dem Schwarzmarkt um ein Vielfaches günstiger tauschte. Ganz aufrechte Brigadisten entschieden sich gegen den Schwarzmarkt und lebten wortwörtlich von Wasser und Brot. Die nicht so Aufrechten gingen sonntags heimlich zum Interconti, wo man für fünf Dollar ein reichliches Frühstücksbüfett bekam. Brigadisten, die Toast mit Marmelade essen, während da draußen dreimal täglich Reis mit Bohnen auf dem Speiseplan stand – nichts war peinlicher, als sich dort zu begegnen. Denn es enthüllte, wie weit entfernt man von dieser bettelarmen Revolution war, mit der man doch gemein sein wollte.

Manchmal meint man, einen Anflug von Ironie zu entdecken, wenn Ernesto Cardenal von den Internationalisten berichtet. An einer Stelle erwähnt er, dass deren Flugtickets wahrscheinlich deutlich mehr gekostet haben, als sie durch ihre Arbeit hätten erwirtschaften können. Doch er meint das anerkennend. Denn sein Buch „Im Herzen der Revolution“ ist zutiefst unironisch.

Cardenal erzählt von der Schlussoffensive der FSLN gegen die Somoza-Truppen, von Reisen nach Deutschland, Palästina, dem Libanon oder Panama, vom plötzlichen Sieg der Revolution im Sommer 1979 und davon, wie sehr er die Aufständischen selbst überraschte. Er berichtet von den chaotischen, enthusiastischen Anfangstagen der Revolution, von der Alphabetisierungskampagne, von den Poesie-Werkstätten, die den Armen das Dichten lehrten, und von dem mobilen Kino, das seine Vorstellungen auf Bitten der Landbevölkerung auf 4 Uhr morgens verlegte, weil die Bauern nach der Arbeit zu müde waren, um sich Filme ansehen. Das ist meistens spannend. Und manchmal auch langatmig in dem stoischen Gleichmut, mit dem Cardenal jede Geschichte mit immer weiteren Zeugen und Zitaten garniert, die ihrer Begeisterung Ausdruck geben über den so unvergleichlich friedlichen und offenen Umwälzungsprozess. Andererseits: Ist es nicht erfrischend, dass sich mal jemand nicht geläutert gibt? Und stattdessen hartnäckig für einen Aufbruch wirbt, der zwar schon 25 Jahre alt ist, an dem er aber immer noch nichts Falsches finden kann?

Leider erzählt Cardenal wenig über die Umstände, die dazu geführt haben, dass sich die vom schmutzigen Krieg der USA besiegte Revolution dann noch mal selbst besiegt hat. Nicht, dass er ausspart, wie sich die führenden FSLN-Kader nach der Wahlniederlage die Filetstücke des „Volkseigentums“ unter den Nagel gerissen haben. Das Buch ist zutiefst durchdrungen von dem Bedauern über das Scheitern, über die Ausplünderung der Revolution durch ihre Anführer – doch es hat wenig dazu zu vermelden, und die Details sind dem ehemaligen Trappistenmönch offensichtlich zu unappetitlich. Was der größter Fehler der Revolution gewesen sei? „Die Tatsache, dass sie von Menschen gemacht war.“ So ratlos wie diese Auskunft, so pantoffelig ist die politische Perspektive, die Cardenal sich und seinen Lesern gibt. „Wie nie zuvor lässt die Evolution überall Menschen entstehen, die eine Veränderung wollen und erklären, dass eine andere Welt möglich ist.“ Eine Allianz von Evolution und Globalisierungskritik wird es schon richten, und der liebe Gott, na klar, der ist auch mit im Boot: „Es wird weitere, neue Revolutionen geben. Lasst uns Gott darum bitten, dass seine Revolution geschehe wie im Himmel so auf Erden.“

Das Buch hätte ein weniger ungefähres Ende verdient gehabt. Und Cardenal hätte es auch schreiben können. Seit seinem Besuch in Venezuela gilt der 79-jährige Befreiungstheologe als Unterstützer von Hugo Chávez. Was nicht wundernimmt, denn seine Schilderungen des revolutionären Prozesses Nicaragua lesen sich stellenweise wie ein Pilotfilm zu dem, was heute in Venezuela geschieht. Die Alphabetisierungs- und Volksbildungskampagnen, die Versuche, kommunale Medien aufzubauen, eine Kulturrevolution anzuregen und mit einer Mischökonomie aus Marktwirtschaft, Volkskooperativen und Staatsbetrieben die Basis für einen Sozialstaat zu schaffen: Vieles, was die sandinistische Bewegung seinerzeit versuchte, findet sich im Arsenal des „bolivarischen Prozesses“ in Venezuela wieder.

Womöglich liegt hierin, jenseits aller ergrauten Brigadistenwehmut, die Aktualität der Erinnerungen des alten Befreiungspriesters: dass die „neue Linke“ in Lateinamerika den Faden wieder aufnimmt. Bücher wie dieses bilden das historische Gedächtnis einer Bewegung, die von Uruguay über Bolivien bis Venezuela wieder über „Poder popular“ spricht.

Ernesto Cardenal: „Im Herzen der Revolution“. Erinnerungen, Bd. 3; Peter Hammer Verlag, 303 Seiten, 25 € Lesetour: 28. 9. Magdeburg, 29. 9. Berlin, 30. 9. Hildesheim, 1. 10. Hamburg, 2. 10. Münster, 3. 10. Dresden, 4. 10. Weimar, 5. 10 Recklinghausen, 6.–7. 10. Bonn, 8. 10. Ulm, 9. 10. Freiburg, 10. 10. Dillingen, 11. 10. Pforzheim, 12. 10. Ravensburg, 13. 10. TübingenProgramm unter www.grupo-sal.de