Das verlassene Dorf

1936 ist Fritz Wandt täglich ins olympische Dorf gelaufen, um Autogramme von berühmten Sportlern zu erjagen. Bis heute streift der alte Mann über das fast vergessene Gelände mit der wechselvollen Geschichte – und schwelgt in Erinnerungen. Doch die denkmalgeschützten Bauen von damals drohen zu verfallen. Der Stiftung, die sie retten will, fehlt das Geld

„Nur als zu DDR-Zeiten die Sowjets hier lebten, waren wir Deutsche auf dem Gelände nicht gerne gesehen“

VON KRISTIN OEING

Die Asphaltdecke ist aufgeplatzt. Risse und zugefrorene Schlammpfützen durchziehen die Straße. „Fünfzig Fahnenstangen. Sie waren genau hier“, sagt Fritz Wandt leise, und seine zittrige Hand zieht einen Bogen durch die Luft. „Direkt hier, und dahinter stand das Empfangsgebäude. Ein prächtiger Rundbau.“ Doch da ist nichts. Kein Stein, kein Fundament, keine Fahnenstangen. Die Augen des 85-Jährigen tränen. Es ist kalt, der Himmel eine graue Suppe. Kein schöner Tag für Erinnerungen.

Aus der Innentasche seiner Jacke zieht Fritz Wandt ein schwarzes Büchlein, gefüllt mit Unterschriften von Olympiasportlern des Jahres 1936. Vorsichtig öffnet er es, streicht mit den Fingern über die vergilbten Seiten. „Das hier stammt vom Spielführer der indischen Hockeymannschaft, den späteren Olympiasiegern“, sagt er und zeigt auf krakelige, mit Bleistift geschriebene Buchstaben. Der alte Mann ist als Junge aus seinem Heimatdorf Dyrotz fast täglich vier Kilometer zum olympischen Dorf gelaufen. Stundenlang hat er vor dem Empfangsgebäude gewartet, nur um ein Autogramm zu ergattern.

Heute liegt der Eingang zum olympischen Dorf auf der anderen Seite des Geländes. Er besteht aus einem schlichten Gittertor, beim ersten Vorbeifahren übersieht man es schon mal. Aber immerhin haben über 20 historische Gebäude auf einer Fläche so groß wie siebzig Fußballfelder den Krieg und die anschließende sowjetische Besatzung überstanden. Ein Empfangsgebäude gibt es heute nicht mehr, nur eine kleine Holzhütte mit der Aufschrift „Kasse“. Seit fünf Jahren können Besucher das einstige olympische Dorf, das neun Kilometer westlich von Berlin an der Bundesstraße 5 liegt, von April bis Oktober erkunden. Im letzten Jahr kamen etwa 24.000 Menschen, immerhin 10 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Für den Erhalt des Dorfs setzt sich die Deutsche Kreditbank AG (DKB)-Stiftung für gesellschaftliches Engagement ein, der das denkmalgeschützte Areal seit über drei Jahren gehört. Sie versuchen die ursprünglichen Gebäude aus der Zeit der Olympischen Spiele zu erhalten. Das Dorf soll zu einem Museum werden, das anschaulich durch sieben Jahrzehnte deutsche Geschichte führt: von der Errichtung der Gebäude unter der Leitung des Architekten Werner March, der auch das Reichssportfeld und das Olympiastadion entwarf, dem Einzug der Olympia-Sportler, später der Wehrmacht bis hin zur Übernahme der Gebäude durch die Einheiten der Roten Armee.

Beim Betreten des Geländes fällt der Blick auf einen von Wildschweinen umgepflügten Sportplatz. Davor wartet Klaus Michels. Der pensionierte Lehrer aus Dallgow ist ehrenamtlicher Führer im Dorf, lernte hier in den 79er-Jahren neben sowjetischen Soldaten das Schwimmen. Er und Wandt kennen sich seit einigen Jahren. Das Interesse für das olympische Dorf verbindet sie. Bedächtig gehen die beiden Männer über den jahrzehntealten Asphalt und bleiben vor einem zerfallenen Gebäude stehen. Es ist die alte Schwimmhalle. Sie steht noch, allerdings wurde sie bei einem Brandanschlag im Jahr 1993 schwer beschädigt und droht nun einzustürzen. „Hier habe ich meine Füße desinfiziert“, sagt Michels aufgeregt und zeigt auf das mehrere Meter lange Desinfektionsbecken, das vor dem Eingang der einst hochmodernen Schwimmhalle noch zu sehen ist. Beim Betreten der Ruine zieht Michels seinen dunklen Anorak zurecht und mahnt zur Vorsicht. Einige Wände sind teilweise eingestürzt, von der Decke rieselt der Putz. Im Becken, in dem immer noch die lichtgrünen Kacheln zu sehen sind, liegt Laub. Die Fensterrahmen sind verrostet. Die Uhr über dem Becken steht auf kurz nach zwölf – wie ein schlechtes Omen, denn auch für die Schwimmhalle könnte die Zeit abgelaufen sein. Das Gebäude ist zwar laut Gutachten der DKB-Stiftung durchaus noch zu retten, die Sanierung würde aber in die Millionen gehen. „Das würde sich kaum noch lohnen“, sagt Michels und blickt auf das Drei-Meter-Brett, das seit mehr als sieben Jahrzehnten hier steht.

Von der Schwimmhalle fällt Wandts Blick auf das ehemalige Speisehaus der Nationen. Sein Blick wird ernst, er presst die schmalen Lippen fest aufeinander. Wo einst 200 Köche der norddeutschen Lloyd für die Athleten kochten, richtete die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg das „Olympia-Lazarett“ ein. „Mein Bruder hatte sich an der Front das Wolynische Fieber eingefangen“, sagt er und schaut auf den ellipsenförmigen Betonbau, „hier sah ich ihn zum letzten Mal.“ Die meisten Fenster sind mit Holzplatten verrammelt, auch hier bröckeln Putz und Farbe von den Wänden. „Nach seiner Genesung wurde er an die Front zurückgeschickt. Er gilt als vermisst. Seit 65 Jahren“. Er dreht sich weg und schaut über die weitläufigen Wiesen.

Michels streicht mit der Hand über den geribbelten Putz. „Scharrierter Muschelkalkputz“, sagt er, „eine Marotte der Nazis.“ Überall findet er sich wieder, auch am Haus Meißen, eines der sechzehn verbliebenen Mannschaftsgebäude. Die Waschräume sind seit siebzig Jahren unverändert. Eine alte Badewanne rostet vor sich hin. Nur das Jesse-Owens-Zimmer wurde von der DKB-Stiftung saniert und neu eingerichtet. Auf dem kleinen Holzschreibtisch steht ein Foto des berühmten Sportlers, um den Rahmen hängt ein goldener Lorbeerkranz. „Den Ikea-Teppich gab es früher natürlich noch nicht“, scherzt Michels. „Wer weiß, ob er überhaupt hier in dem Zimmer gewohnt hat“, sagt Wandt. „Ich habe gehört, er hat gar nicht im Haus Meißen gewohnt, aber wen interessiert das heute schon noch so genau.“

Das Desinteresse an der Erhaltung des Dorfs ist für Fritz Wandt schmerzlich. Seine Lebensgeschichte ist eng mit dem Dorf verwoben. „Nur als zu DDR-Zeiten die Sowjets hier lebten, waren wir Deutsche auf dem Gelände nicht gern gesehen“, erinnert sich der Rentner, der Treppenstufen wie ein junger Athlet erklimmt. Er hat nichts vergessen, seine Erinnerungen sind klar. „Die Rote Armee baute mehrgeschossige Plattenbauten“, sagt er und zeigt auf die grauen Wohnklötze. Verlassen, entkernt, mit zerbrochenen Fenstern – von den einst luxuriösen Wohnungen für Offiziere ist nicht mehr viel übrig geblieben. Seit dem Abzug der sowjetischen Soldaten 1992 verfallen die Quartiere genauso wie der Rest. Die verlassenen Häuser sollen nun nach und nach abgerissen werden. „Damit beginnen wir, die ursprüngliche Landschaftsarchitektur wiederherzustellen“, sagt Martin Honerla, Vorstand der DKB-Stiftung. Abriss, Sanierung, Wiederaufbau – das sind teure Vorhaben. „Allein die Kosten für die Rettung der Schwimmhalle würden in die Millionen gehen.“ Einen Anspruch auf öffentliche Mittel hat die DKB-Stiftung nicht. Dafür müsste die gesamte Fläche zum Nationaldenkmal ernannt werden. „Wir verhandeln derzeit mit der Denkmalpflege“, sagt Martin Honerla.

Fritz Wandt kehrte 1994 auf das Gelände zurück. Zusammen mit seinen Enkelkindern fuhr er mit dem Fahrrad durch eine Lücke im Zaun. „Der Wachschutz hat uns zum Glück nicht gesehen.“ Damals wie heute kehren die Erinnerungen an die unbeschwerten Tage vor dem Krieg zurück. „Die Wochen der Olympiade, das waren fröhliche Tage – die letzten für eine lange Zeit.“

Öffnungszeiten: Mo.–So. 10–16 Uhr. Ab 1. April tägliche Führungen um 11 Uhr, am Wochenende auch um 14 Uhr. Eintrittspreise: 1 €, mit Führung 4 € Weitere Informationen unter www.olympisches-dorf.de