Ein kleiner Höhepunkt

AUS BERLIN UND MAGDEBURG SASCHA TEGTMEIER

Frau Fuchs könnte nicht zufriedener sein. Sie ist jetzt wieder voll motiviert. Mit vor Aufregung roten Wangen sagt sie: „Die Stimmung war überwältigend. Das nehmen wir mit nach Magdeburg.“ Dann legt sie vorsichtig ihr Plakat in den Laderaum des blauen Doppeldeckerbusses. „Magdeburger sind gegen Hartz IV“ hat sie in großen Buchstaben auf das Schild gemalt. An diesem Samstag hat sie es durch die halbe Berliner Innenstadt getragen. „Es fühlte sich historisch an“, sagt sie. Ihre Stimme ist heiser.

Für Andreas Ehrholdt sollte es auch ein historischer Tag werden. Im schlecht sitzenden blauen Jackett steht er vor dem Bus und wartet auf die letzten Heimkehrer. Ernüchtert blinzelt er in die Berliner Abendsonne. Die Demo hatte er sich anders vorgestellt – sie war seine Idee.

Der Morgennebel hatte sich gerade verzogen, als Ehrholdt und die anderen Magdeburger aufbrechen nach Berlin. 14 Busse haben sie gemietet. Auf der Autobahn ist ihre Stimmung ausgelassen wie auf einer Klassenfahrt. „Ja, wir fahren nach Berlin, Haleluuuuja“, singt Ehrholdt durchs Megafon zur Melodie des Gospelsongs „Michael row the boat“. Alle singen mit. Es soll ein wenig über die Aufregung hinweghelfen.

„Wenn wir im Oktober eine Million Menschen in Berlin auf die Straße bringen, wird der Herr Schröder vielleicht mal anfangen nachzudenken“, hatte Erholdt immer wieder gesagt. Er ist eine Symbolfigur für die Proteste gegen Hartz IV geworden. Der gelernte Bahnarbeiter hat seit der Wende keine feste Arbeit mehr bekommen. Mit 600 Demonstranten vor dem Magdeburger Dom hatte er die neuen Montagsdemonstrationen Ende Juli ins Leben gerufen, einen Monat später gingen deutschlandweit 150.000 Menschen auf die Straße. In den vergangenen Wochen ist die Zahl der Demonstranten jedoch immer weiter gesunken. Irgendetwas ist schief gelaufen.

Frau Fuchs glaubt, dass durch die Großdemo wieder mehr Menschen auf die Straßen gehen werden. „Schröder wägt sich schon in Sicherheit“, sagt sie als der Bus an die Stadtgrenze kommt. „Heute setzen wir ein Zeichen.“ Frau Fuchs ist 55 Jahre alt, zu DDR-Zeiten war sie Kindergärtnerin, seit vier Jahren ist sie arbeitslos.

Deshalb war sie auch schon bei der ersten Montagsdemo in Magdeburg dabei. Es war ein schönes Gefühl als sie danach nach Hause kam. „Ich war einfach froh, dass endlich etwas passiert“, sagt sie. Darum wollte sie unbedingt nach Berlin fahren. Es sollte eine Art Höhepunkt ihrer Karriere als Montagsdemonstratin werden. Aufgeben will sie auf keinen Fall: „Und wenn ich alleine auf der Straße stehe.“

Auch Jürgen Krabbes denkt nicht daran, in Zukunft montags zu Hause zu bleiben. „Wenn wir jetzt aufgeben, hat die Regierung doch gewonnen“, sagt er. Auch Krabbes ist Langzeitarbeitsloser und sehnt sich nach den Zeiten zurück, die vor den Montagsdemonstrationen von 1989 liegen. „Der Westen hat hier alles kaputt gemacht“, sagt er wütend. Aus den Buslautsprecher dudelt ein Schunkel-Rocksong. „Hartz IV muss weg“ heißt es im Refrain. Einer der Magdeburger hat ihn selbst geschrieben.

Um kurz nach elf Uhr, zwei Stunden bevor die Demo offiziell losgehen soll, stehen die Magdeburger bereits an der Karl-Liebknecht-Straße. Sie sind die ersten. Erst drei Stunden später wird sich sich der Demo-Zug in Bewegung setzen. Hunderte von Luftballons, auf denen „Druck machen“ steht, füllt die PDS bis dahin mit Helium. So viele, dass die Demo in rot getaucht wird. Die Magdeburger nehmen keine Ballons und laufen geschlossen los. Nicht an der Spitze, aber weit vorn. Ehrholdt trägt ein Plakat, auf dem „Landeshauptstadt Magdeburg“ steht. Doch er führt die Demo nicht an, wie er es sich wohl ursprünglich vorgestellt hatte – er läuft in der Masse mit. Frau Fuchs hat sich eine Digitalkamera umgehängt und schreit so laut sie kann: „Clement in die Produktion, aber nur zum Hungerlohn.“ Dazwischen sagt sie immer wieder: „Überwältigend!“ oder „Wahnsinn!“ Auch Jürgen Krabbes sagt, dass er froh sei, dabei zu sein. „Einfach mal unter Menschen sein. Es kotzt mich an, immer nur zu Hause zu sitzen.“

Mit großen Augen laufen die Magdeburger durch Berlin-Mitte, erstaunt von der Hauptstadt und den anderen Demonstranten. Sie unterscheiden sich sehr von denen in Magdeburg. Hinter ihnen läuft ein Migrantenverein und singt ein Anti-Hartz-Lied auf Türkisch. Die stellvertretende PDS-Vorsitzende Katja Kipping tänzelt dem Lautsprecherwagen der PDS-Jugend hinterher. Und „Hallo, ich bin Mike von Attac“ gibt Termine durch.

Die Gewerkschaften sind auch gekommen, obwohl die Bundesverbände nicht zu der Demo aufrufen wollten. Sogar Verdi-Chef Frank Bsirske ist da. „So ein Verräter“, sagt Ehrholdt, als er davon erfährt. Den Gewerkschaften gibt er die Schuld dafür, dass die Demo nicht größer wurde.

Trotzdem hält er sich bei der Abschlusskundgebung mit Kritik zurück. Er konzentriert sich voll auf die Regierung: „Macht euch aus der Sonne“, brüllt er ins Mikrofon. Seine Stimme überschlägt sich dabei. Auf die beiden A4-Seiten mit seiner Rede schaut er nicht ein einziges Mal. Es sei ja schon alles gesagt worden. Zum Schluss ruft Ehrholdt alle Demonstranten auf, am Montag um alle Kaufhäuser von Karstadt Menschenketten zu bilden.

Dann betritt Pedram Shahyar, der Sprecher von Attac zum letzten Mal die Bühne und ruft: „Dies ist nicht das Ende, dies ist nur eine Zwischenetappe.“ Es klang wie eine Beschwörung, so als hätte er da schon gewusst, dass der Berliner PDS-Chef Stefan Liebich einen Tag später das Ende der Montagsdemonstrationen fordern würde. Es sollten andere Formen gesucht werden, hat er einer Zeitung gesagt.

Frau Fuchs hat wieder im Bus Platz genommen. Sie kramt ein Stück selbst gebackenes Brot aus dem Rucksack. Es ist Samstagabend, kurz vor sechs. Vor dem Bus steht noch immer Andreas Ehrholdt und wartet auf Nachzügler. 45.000 Hartz-Gegner sind es am Ende nur gewesen. Darauf haben sich Polizei und Veranstalter geeinigt. „Es war ein Erfolg“, sagt Ehrholdt trotzdem. Zahlen seien ihm egal. Dann steigt er ein.