Pillenparadies Deutschland

Es werden noch immer zu viele neue und zu viele unnötige Medikamente verschrieben. Weder Ärzte noch Patienten oder gar Pharmafirmen interessieren sich für billige Arznei

Die niedergelassenen Ärzte tragen erheblich zur Kostensteigerung bei, da sie sich nicht ordentlich fortbilden

Als „habilitierte Pharmareferenten“ hat Ingrid Mühlhauser einen Teil der universitären Chefärzte vor kurzem bezeichnet. Die Hamburger Professorin für Gesundheit meinte damit die enge Verbindung vieler Hochschullehrer mit der Pharmaindustrie. Kaum ein Chefarzt in der Medizin, der nicht einen lukrativen Beratervertrag mit einem Pillenhersteller eingegangen ist oder sich ebenso einseitige wie mittelmäßige Vorträge auf Pharmaveranstaltungen fürstlich honorieren lässt. Längst macht das Schlagwort von den „Mietmäulern“ in der Branche die Runde.

Diese Abhängigkeiten und Verquickungen haben ökonomische Auswirkungen. So stiegen auch im vergangenen Jahr die Ausgaben für Medikamente weiter, wie der kürzlich vorgestellte Arzneiverordnungsreport ausweist. In dem Bericht wird deutlich, dass in Deutschland noch immer zu viele neue und noch immer zu viele unnötige Medikamente verschrieben werden, die nicht wirksamer, aber teurer als herkömmliche Mittel sind. Die Arzneimittelausgaben der Krankenkassen sind daraufhin im vergangenen Jahr um 6,5 Prozent auf das Rekordhoch von 22,7 Milliarden Euro gestiegen. Vor allem teure Analogpräparate ohne zusätzlichen Nutzen tragen zu dem stetigen Anstieg bei. 4,1 Milliarden Euro könnten jährlich in der Therapie eingespart werden, so die Schlussfolgerung der Autoren, ohne dass die medizinische Behandlung schlechter würde und die Patienten Nachteile in Kauf nehmen müssten.

Ein weiteres Beispiel für das weitgehend unkritische und ungebremste Verschreibungsverhalten ist die Hormontherapie in den Wechseljahren: Wie ist es zu erklären, dass trotz massiver Warnungen und Gefahrenhinweise immer noch in großer Zahl Hormone an Frauen in den Wechseljahren verschrieben werden? Und warum berichten immer noch etliche Frauen jenseits der 45 davon, dass ihnen bei jedem Frauenarztbesuch Hormone aufgedrängt würden, obwohl sie keine oder kaum Beschwerden haben?

Jahrelang galt die frühe und langfristige Hormongabe in den Wechseljahren als Quell ewiger Gesundheit, der Schutz vor brüchigen Knochen, Herzinfarkt und welker Haut bot. Doch mittlerweile sind die Beweise erdrückend, dass der mögliche Schaden größer als der mögliche Nutzen ist. Vergangenes Jahr wurde in den USA eine große Untersuchung mit 16.000 Frauen abgebrochen, weil zu viele Nebenwirkungen unter der Hormonbehandlung aufgetreten waren: mehr Brustkrebs, mehr Schlaganfälle, mehr Herzinfarkte, Thrombosen und Embolien.

Die nationalen Gesundheitsinstitute der USA zogen daraufhin sofort die Notbremse und beendeten die Studie. Sie warnten – wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – vor dem langfristigen Gebrauch der Medikamente. Doch viele Gynäkologen hierzulande, allen voran der Berufsverband der Frauenärzte, verharmlosten die Ergebnisse der US-Studie. Sekundiert vom Hormonhersteller Schering, bestritten sie die Übertragbarkeit auf Deutschland, ohne entsprechende Gegenbeweise liefern zu können.

Im August dieses Jahres gab es weitere Belege für die potenzielle Gefahr durch Hormone. Eine britische Untersuchung mit mehr als einer Million Engländerinnen zeigte erneut ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs. Die Forscher errechneten, dass in Großbritannien in den vergangenen zehn Jahren „20.000 zusätzliche Brusttumore“ auf die Hormontherapie zurückzuführen seien.

Das BfArM ordnete schon wenige Tage später an, dass diese Risiken zum 1. November in die Beipackzettel aufgenommen werden müssen. Das Bundesinstitut empfahl außerdem, die Behandlung nur bei ausgeprägten Beschwerden und dann so kurz und so niedrig dosiert wie möglich durchzuführen – und „nur nach ausführlicher Aufklärung der Patientin über die bereits im ersten Anwendungsjahr zu erwartenden schwer wiegenden Risiken“.

Im September bekräftigte die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft die Aussagen des BfArM und ließ durchblicken, dass bei der Anpreisung der Hormontherapie wohl auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle gespielt haben mögen. Womöglich sei die Behandlung mit dem Ziel propagiert worden, „neue Bedürfnisse, Nachfragen und Indikationen zu generieren“, um „einen natürlichen Lebensabschnitt wie die Menopause in eine behandlungsbedürftige Hormonmangelkrankheit umzudeuten“.

Das sind deutliche Worte. Doch das Umdenken und eine Neuorientierung in der Verschreibungstätigkeit gehen nur langsam voran. Die enge Verbindung vieler so genannter medizinischer Meinungsbildner mit der pharmazeutischen Industrie mag ein Grund dafür sein, dass die Widerstände in der Branche erheblich sind. Doch sie sind nicht die einzige Ursache für das kaum gebremste Verschreibungsverhalten im Pillenparadies Deutschland.

Auch die niedergelassenen Ärzte tragen erheblich zur Kostensteigerung bei. Ihre Fortbildung lässt immer noch zu wünschen übrig, obwohl entsprechende Defizite seit Jahren beklagt werden. Viele Vorträge, Kongresse und Tagungen sind Werbeveranstaltungen der Pharmaindustrie. Der übrige Teil der Fortbildung findet in der Praxis statt, wo Firmenvertreter in Hochglanzprospekten vermeintliche Vorteile der neuen Medikamente einseitig darlegen.

Hormontherapie wird propagiert, um neue Bedürfnisse, Nachfragen und Indikationen zu generieren

Die Ärzte sind mit dem Informationsangebot häufig überfordert. Vielen von ihnen fehlt das Rüstzeug, Studien kritisch zu beurteilen – seien sie von Pharmafirmen oder von unabhängigen Forschern erstellt. Medizinstudenten wird kaum vermittelt, wie sie an die besten, wissenschaftlich gesicherten Informationen gelangen. Wer diese Techniken, die unter dem Stichwort „evidenzbasierte Medizin“ zusammengefasst werden können, nicht beherrscht, kann im Dschungel von jährlich mehr als einer Million medizinischer Veröffentlichungen in rund 20.000 Fachzeitschriften schnell den Überblick verlieren.

Natürlich tragen auch die Patienten ihren Teil zu den stetig steigenden Arzneimittelausgaben bei. „Wir leben alle auf Kredit und auf Rezept“, hat Heinz Rudolf Kunze schon vor 20 Jahren gesungen. Noch immer gehört es für viele Menschen zum erfolgreichen Arztbesuch, dass sie die Praxis mit einem Rezept verlassen. Und noch immer wollen viele Menschen nicht akzeptieren, dass in dem billigeren Nachahmerpräparat der identische Wirkstoff in gleicher Zusammensetzung enthalten ist wie in ihrem bewährten Medikament. Manche Patienten beklagen sofort eine Zweiklassenmedizin, wenn ihnen ihr Arzt die kostengünstigere und genauso hilfreiche Alternativtablette anstatt der gewohnten verordnen will.

Weder Ärzte noch Patienten – erst recht nicht die Pharmafirmen – haben ein wirkliches Interesse an billigeren Arzneimitteln. Erst wenn alle Beteiligten merken, dass sie von einem finanziell gesünderen Gesundheitssystem profitieren würden, kann die Wende in der Arzneimittelverordnung eingeleitet werden. WERNER BARTENS