Das ewig Kreisende

Die Fünfzigerjahre und die Angst vor der Zeit: Dieter Fortes Roman „Auf der anderen Seite der Welt“

von ALEXANDER LEOPOLD

Es beginnt mit einer in mehreren Etappen verlaufenden Zugfahrt, von einer Stadt im Westen des Landes auf eine kleine Insel in der Nordsee. Ein junger Mann auf einer Reise, an sich nichts Ungewöhnliches. Doch kaum sitzt er im Zug, macht er sich Gedanken darüber, ob sich im Moment des Todes das Leben tatsächlich noch einmal in einem Schnelldurchlauf abspielt. Und ob dies wohl auch für die letzte Zeit einer todbringenden Krankheit gilt, in Form eines „geduldigen, gelassenen Abschiednehmens vom Leben, das aus verblassenden Erinnerungen bestand, die sich unbemerkt von einem entfernten, vor dem nahenden Tod noch einmal aufleuchteten mit einer Intensität, die im Leben nicht zu finden war“.

Diese Reise, das wird schon auf der ersten Seite von Dieter Fortes Roman „Die andere Seite der Welt“ deutlich, ist keine gewöhnliche Reise. Es könnte die letzte des jungen, schwer lungenkranken Mannes sein, und der Ort, an den er sich begibt, ein Sanatorium, ein Ort ohne Wiederkehr. Sicher ist, dass diese Reise eine in die Zeitlosigkeit ist, dass sie ein dem jungen Mann sehr geläufiger Abschied ist von der geschäftigen Welt, die die Zeit in Minuten, Stunden und Tage misst. Genauso sicher ist, das wird ebenfalls schnell deutlich, dass dieser Roman von Dieter Forte kein gewöhnlicher Roman ist; keiner, der eine Geschichte von Anfang bis Ende erzählt und zwischendrin ein paar dramaturgische Aufs und Abs hat. Nach wenigen Seiten hebt der Erzähler ein weiteres Mal mit dem allerersten Satz des Romans an: „Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete …“

Dieser Satz ist das Mantra des Romans, das ihm seinen Rahmen und seine Poetologie gibt. „Das sich Wiederholende ist das Bleibende. Das in sich Kreisende das Ewige. Kein Anfang, kein Ende und keine Vollendung“, heißt es auf halber Strecke, von der Forte konsequent abkommt und plötzlich kurz gar ein Erzähler-Ich zu Wort kommen lässt. Dieses sieht „den Menschen, der ich bin“ auf seiner Pritsche liegen, sieht, wie er sich an Menschen klammert und noch fern ist von der Erkenntnis der Wiederholung, die das Bleibende ist.

Wird die erste Hälfte des Romans bestimmt von der Zugfahrt des jungen Mannes, seiner Ankunft, seinen Gedanken und Begegnungen im Sanatorium, und auch den ersten Lebensgeschichten anderer Patienten, so zerfällt er schließlich in vielerlei Erzählfragmente. Eine kurze Geschichte folgt auf die nächste. Etwa die vom steinreichen Bommi Lateran, der sein Geld auf dem Schwarzmarkt gemacht hat, erst mit Fahrradspeichen, die er als Feuersteine ausgab, dann mit falschen, später echten Edelsteinen. Lateran lebt freiwillig in erbärmlichen Verhältnissen und ist ständig unterwegs, verfolgt von den Toten aus den KZs, die seinen Namen rufen und sich wundern, dass ausgerechnet er noch lebt. Oder die Geschichte vom Grafen, der Falschgeld herstellt, das seine Angestellte in echtes Geld umtauscht, nachdem sie entdeckt hat, dass der Graf gar kein Graf ist. Oder die vom Kleinen, der dem Großen immer wieder ins Gesicht schlagen darf, weil dieser ihn im KZ gefoltert hatte: Schuld aber lässt sich so nicht abtragen, die Verletzungen des Kleinen bleiben.

Alles Geschichten von Menschen, die in den Fünfzigerjahren ihr Glück zu machen versuchen oder in ihr Unglück treiben, die es schaffen oder nie richtig in die Spur kommen. Und zwischendrin die Versatzstücke aus dem Leben des namenlosen jungen Mannes, den seiner Krankheit wegen keiner einstellen möchte. So entwirft Forte ein Panorama der Fünfzigerjahre, in denen nur Fortschritt und Wiederaufbau zählen und die „Vergessenheitsfirma“ ihre Arbeit macht. Verdrängung, schamvolles Verschweigen, der Euphemismus von der „Stunde null“, all das ist das Gebot der Zeit, nur schieben sich dauernd die Schrecken des Krieges und die Schuld daran dazwischen.

Forte knüpft mit seinem Roman chronologisch und in der Figur seines jungen Mannes vermutlich auch personell an seine großartige, noch immer nicht ausreichend gewürdigte, in den Neunzigerjahren entstandene Kriegs-Trilogie „Das Haus auf meinen Schultern“ an, dessen dritter Teil die Nachkriegszeit in der Trümmerlandschaft aus der Sicht eines namenlosen, schwer kranken Zehnjährigen schildert.

Ein Werk, wie Forte betonte, „hinter dessen Sprache ein nicht mehr schilderbares Grauen lauerte“, aber diesem sprachlos machenden Grauen doch abgerungen war. „In die Sprache hineingehen“, nannte Forte diesen Prozess des Abtragens und Freischaufelns von Erinnerungen. „Auf der anderen Seite der Welt“ nun, dessen Setting an Thomas Manns „Zauberberg“ erinnert, an Thomas Bernhards „Der Atem“, ist noch mehr als ein Roman über die Gedankenlosigkeit der Fünfzigerjahre, mehr als ein Roman über Menschen, die bewusst oder unbewusst das Leben ihrer Epoche leben, mehr als ein Roman über das Wechselspiel von Vergessen und Erinnern.

Es ist auch ein Roman über die Zeit, über jenes doppelköpfige Ungeheuer der Verdammung und Erlösung (Samuel Beckett), über „die Angst vor der Zeit, die einen auslöscht“, letzten Endes über die fragwürdige Existenz von Zeit überhaupt. All das mündet unweigerlich in die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Antwort darauf: Das Leben ist sinnlos, höchstens in dieser Sinnlosigkeit besteht sein Sinn. Genau das will aber auch erkannt sein.

Diesem Paradoxon spürt Forte nach, und er gibt seinem jungen Mann irgendwann mit auf den Weg, dass ein Sinn des Lebens vielleicht im Erzählen liegen könnte, „dass er in der Erzählung seines Lebens das Sinnvolle wahrnimmt, die Vielfalt des erzählten Lebens erkennt“. Ja, und dass die Literatur, wie es bei Thomas Bernhard heißt, „die mathematische Lösung des Lebens und in jedem Augenblick auch der eigenen Existenz bewirken kann“.

Fortes Roman ist ein Kampf gegen die Sinnlosigkeit des Lebens. Ein Kampf, der nicht ohne Pathos auskommt, nicht ohne Düsternis, der aber von der ersten bis zur letzten Zeile in seinen Bann schlägt. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, hier habe ein Autor abgeschlossen und sein Vermächtnis an die Welt vorgelegt. Der Kampf ist zwar gewonnen, aber wider bessere Einsicht, denn „verschwindet nicht alles unter den steifen Laken der Zeit“? Hilft Erzählen da wirklich?

Zumindest sollte dieser Roman helfen, den Ruhm von und die Anerkennung für Dieter Forte zu mehren – so weit ragt er aus der aktuellen Literaturproduktion und der der vergangenen Jahre heraus. So sehr dürfte er auch in den kommenden Jahrzehnten zu lesen sein, ohne dass in ihm allein die bloße Zeitgenossenschaft wahrgenommen wird. Manchmal hat Zeitlosigkeit auch ihr Gutes.

Dieter Forte: „Auf der anderen Seite der Welt“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2004. 343 Seiten, 19,90 Euro