Abschied vom Bembel

Apfelwein statt Äppelwoi, Hedonismus statt Mostschädel – die Geschichte einer Veredlung

VON TILL EHRLICH

Der Apfel galt im Vergleich zur Traube lange Zeit als ewiger Zweiter, wenn es um Wein ging. Er war der traditionelle bäuerliche Haustrunk und das Ersatzgetränk für Arme, die sich keinen Traubenwein leisten konnten. In vielen Weingegenden bekamen die Arbeiter sogar bei der Weinernte Obstwein eingeschenkt, Traubenwein war den oberen Schichten vorbehalten.

In dieser Logik entsteht aus Trauben edler Wein, aus Äpfeln ordinärer Apfelwein, der in Frankfurt Stöffche, Äppelwoi oder Ebbelwei, in Schwaben und Österreich Most heißt und auf die regionale Bedeutung dieser Produkte verweist. Der Apfel war die Traube des kleinen Mannes. Bis heute dominieren Großkellereien den Markt, die Massenprodukte als Apfelwein verkaufen, der all jenen recht gibt, die sich mit Grausen abwenden. Bislang war daher das Thema Apfelwein in Genusskreisen tabu und außerhalb Frankfurts und einiger Landkreise kaum vermittelbar.

Nun gibt es einen Paradigmenwechsel. Es geht nicht mehr um den naturtrüben, sauren Billigtrunk aus dem Bembel, sondern um „regionales Genuss-Branding“. Dabei werden regionale Spezialitäten verfeinert, zunehmend handwerklich und ökologisch erzeugt und als hochwertige Produkte hochpreisig vermarktet. Der weltweite Erfolg von Slow Food hat es vorgemacht, nun ziehen Hessen und Schwaben nach. So wird aus gemeinem Stöffche, Äppelwoi und Most edler Apfelwein. Die besten Produkte können es schon heute mit mittleren und guten Wein- und Schaumweinqualitäten aufnehmen. Zudem kann Obstwein bei der Bekömmlichkeit punkten, er enthält zumeist weniger Alkohol als Traubenwein.

Der Apfel war an der Entstehung der europäischen Kultur maßgeblich beteiligt. Mit einem Biss in den Apfel, dem oralen Sündenfall, begann bekanntlich die Vertreibung aus dem Paradies. Im Garten Eden steht der Apfel für die Entdeckung der Vereinigung, der Liebe im Zusammenkommen. Die Erkenntnis, dass durch Vereinigung etwas Neues entstehen kann und dass es überhaupt etwas anderes gibt, weshalb man nicht mehr wissen kann, was richtig und falsch ist, wird bestraft mit der Vertreibung aus dem Paradies. Das Entdecken und Gewichten von Verhältnismäßigkeiten tritt an die Stelle von Gewissheiten.

Mit dem Menschen hat auch der Apfel den Garten Eden verlassen, und die Begegnung mit der Natur im Sinne einer Gegenseitigkeit beginnt. Im Hohelied Salomos taucht der Liebesapfel in Verbindung mit dem Wein auf: „Stärket mich mit Krügen Wein, labet mich mit Äpfeln; denn liebeskrank bin ich.“

Einerseits wurde der Apfelbaum zum Symbol des Bösen schlechthin, der Apfelbaum ist der malus und der Apfel Inbegriff von Versuchung und Verführung. Andererseits war er Symbol für die Erschließung der Wildnis, für den Anfang eines Kultivierungsprozesses und die Umwandlung von Raum in Ort. So erzählt es auch die Legende von John Chapman alias Johnny Appleseed, der in die amerikanische Populärerzählung als „Zivilisator der Wildnis“ eingegangen ist. Er wanderte um 1797 von Longmeadow, Massachusetts in den Mittleren Westen. Barfuß in einen alten Kaffeesack gehüllt, ein paar Apfelkerne im Säcklein und die Bücher von Emanuel Swedenborg am Leib, hinterließ Chapman seine nomadische Spur.

Die Apfelgärtlein, Repräsentanten seiner Fußstapfen, eroberten mäandernd den Wilden Westen und die Lehre Swedenborgs die Seelen der Siedler. Es war keine schlechte Investition für den Träger der erbärmlichen Weste, wurde doch ein Gesetz erlassen, dass diejenigen, die im „Northwest Territory“ Land besitzen wollten „mindestens fünfzig Apfel- oder Birnbäume“ anpflanzen“ mussten. Die Baumschule Chapmans boomte. Doch Bäume aus Kernen bringen ungenießbare Früchte hervor. Den für die Genießbarkeit notwendigen Veredlungsprozess wollte Chapman/Appleseed dem lieben Gott überlassen.

Beginnt die Kultivierungsgeschichte des Apfelbaums nicht erst mit dem Pfropfen? Pfropfen heißt veredeln. Ohne ständige Pflege verwildern die Apfelsorten. Der wilde Apfelbaum hat Dornen, seine Früchte sind klein, hart, bitter und unbeständig im Ertrag. Erst mit dem Pfropfen beginnt das, was wir als Apfel kennen. Dabei wird die Sorte auf eine Unterlage gesteckt, wozu früher hoch wachsende und tief wurzelnde Hölzer verwendet wurden, wie Mispel, Weißdorn und Eberesche. Bis heute entstehen so die besten Qualitäten.

Der industrienahe Intensivanbau hat die Hochstämmigen durch den kleinen Spindelbaum ersetzt, der flach wurzelt und langsam wächst. Für gute Säfte sind die Früchte ungeeignet, sie besitzen wenig Geschmack. Hier ist nicht nur Sortenvielfalt verloren gegangen, sondern auch Wissen. Ein Versuch, das Paradies wieder zurückzuholen, sind vielleicht die Streuobstwiesen. Sie sind ein Sehnsuchtsobjekt geworden; das Symbol einer im Verschwinden begriffenen kleinbäuerlichen Welt, in der Schafe auf romantischen Obstwiesen weiden. Dies ist freilich ein urbaner Blick auf die Dinge, wobei der Begriff „Streuobstwiese“ recht jung ist. Er wurde erst in den 1980er-Jahren von Naturschützern geprägt.

Die Streuobstwiesen heißen so, weil die Bäume malerisch verstreut, eben gar nicht in Reih und Glied stehen. Noch in den Sechzigerjahren wurden in der alten Bundesrepublik staatliche Prämien für die Rodung von Streuobstwiesen gezahlt. Obst von der Streuobstwiese ist heute ein Pluspunkt bei der Vermarktung. So schmücken Großerzeuger von Apfelwein ihre Massenprodukte gern mit stimmungsvollen Abbildungen von Streuobstwiesen; dennoch verarbeiten viele von ihnen importiertes Obst und Konzentrate. Das Obst der Streuobstwiesen galt bislang als nicht wirtschaftlich. Das Sterben von regional verwurzelten kleinen Keltereien hat dazu beigetragen, dass auch die Streuobstwiesen immer weniger werden. Die Bäume stammen meist aus dem 19. Jahrhundert und wurden ursprünglich in Reihen gepflanzt, also gar nicht verstreut angelegt. Was man heute als Streuobstwiese wahrnimmt, sind jene Bäume, die übrig geblieben sind.

Die Apfelbäume gehören wie Roggen zu jenen Pflanzen, mit denen die Wildnis erschlossenen und domestiziert wurde. Unsere Kulturlandschaft, die auch von Obstbäumen geprägt wurde, war Teil einer vom Menschen grundlegend veränderten Natur. Die flächige Ausbreitung der Obstbäume begann ab dem 16. Jahrhundert, wobei der gesteigerte Obstertrag die Versorgung der Landbevölkerung verbesserte. Die Klimaveränderung während der Kleinen Eiszeit erschwerte die Bedingungen für Traubenanbau; gleichzeitig wurden der hochstämmige Obstanbau und die Obstweinbereitung populär, Weingärten wurden durch Obstgärten ersetzt. Die Blüte war im 19. Jahrhundert, damals entstand eine immense Vielfalt spezieller Mostsorten für die Weinbereitung, die im Laufe mehrere Generationen selektioniert wurde. Diese Sorten werden heute als „alte Sorten“ bezeichnet.

Ab den 1920er-Jahren ging der Obstweinbau zurück, die Obstweinbereitung kam aus der Mode, überlebte als bäuerlicher Haustrunk in manchen ländlichen Gebieten, etwa in Schwaben, Hessen, Oberösterreich und dem niederösterreichischen Mostviertel. Für die Weinbereitung sind frühreife Sommersorten wenig geeignet. Mostobst ist erst im Herbst und Winter reif. Als geeignete Sorte gilt etwa der Winterborsdorfer, der in Deutschland stark verbreitet und speziell für das harte Winterklima gezüchtet worden war. Mostäpfel sind auch der „Rote Stettiner“, der „Englische Goldapfel“ und verschieden Arten von Renetten. Beim Birnenwein wird der „Champagner-Bratbirne“ eine besondere Qualität zugeschrieben. Da auch sie mit den Streuobstwiesen immer mehr verschwindet, hat sich in Württemberg der Verein „Rettet die Champagner-Bratbirne“ gegründet.

Thomas Bernhard hatte sein eigenes Thema mit dem Most. In seinem Vierkanthof in Obernathal, Oberösterreich, presste und kelterte er den Trunk, sein Keller soll „voll von herrlichem Most“ gewesen sein, wie es in Karl Ignaz Hennetmairs „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ heißt. Die Mostpresse stand im ehemaligen Schweinestall, der „resche“ Most lag in Fässern und wurde krugweise abgezapft und bis zur nächsten Ernte getrunken. „Hol Most!“ ist die in Bernhardts Roman „Kalkwerk“ zum Imperativ erstarrte Formel für die Demütigungsbeziehung zwischen Konrad und seiner gelähmten Frau, die ihn mehrmals am Tage in den Keller schickte um ein Gläschen Most – keinen Krug bitte – zu holen, wobei Konrad die ganze Ohnmacht der Frau als Sadismus und Macht über ihn erleidet.

Als Konrad von diesen Qualen seinem Freunde erzählt, gerät er mit Inbrunst in Erzählungen von den Gärungsprozessen des Mostes, dem lebendigen Klima im Keller und dem Lüften der Fässer, als handele es sich um ihn selbst, der dort sein geschundenes Gemüt lüftet und die Atmosphäre im Keller sucht, die er oben nicht findet. Mostbauer Thomas Bernhard kam seiner eigenen Verführbarkeit in aller Nüchternheit auf die Schliche: „Zu den ganz einfachen Leuten möchte man dazugehören. Das ist natürlich so ein Irrtum, weil man nicht dazugehört.“

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, ist taz.mag- Spezialist für Essenskulturgeschichten