Zielscheibe Kandidat

Drohungen und Morde können die Afghanen nicht von den Präsidentschaftswahlen fern halten

AUS KABUL JAN HELLER

Es hätte das erste Streitgespräch nach dem Muster der Bush-Kerry-Debatte in Afghanistan werden sollen. Am Montag traten die Kandidaten der afghanischen Präsidentschaftswahl im Kabuler Hotel Intercontinental vor die Fernsehkameras. Eine Bush-Kerry-Debatte wurde es aber nicht, denn die Favoriten hatten abgesagt: Der derzeitige Präsident Hamid Karsai kam ebenso wenig wie sein chancenreichster Herausforderer Junus Kanuni. Auch Warlord Raschid Dostum glänzte durch Abwesenheit.

Obwohl Karsai nicht da war, bestimmte er die Debatte. Der Theologieprofessor Abdul Sattar Sirat beschwerte sich, dass die Regierung den Wahlkampf nur einen Monat dauern lasse. „Bei über 30 Provinzen haben wir nicht einmal einen Tag für jede“, sagte er, „und wir müssen mit dem Auto fahren, während Karsai den Hubschrauber benutzt.“ Der Vorwurf, der Amtsinhaber verwende regelwidrig staatliche Ressourcen für seinen Wahlkampf, einigt alle Karsai-Rivalen.

Doch auch Vetternwirtschaft und Verschwendung werden ihm angelastet. „Der Fisch verdirbt vom Kopf her“, entgegnete Sirat auf die Frage, wie er die Korruption in der Übergangsregierung beseitigen wolle. Kandidat Wakil Mangal sagte auf die Frage, was mit den vor drei Jahren versprochenen 4,8 Milliarden Dollar an internationalen Hilfsgeldern geschehen sein könnte: „Das sollten Sie die Minister fragen, die in großen Häusern wohnen, die sie vorher nicht hatten.“

Solche Debatten bilden die Hauptform des ersten freien afghanischen Wahlkampfes seit Ende der 60er-Jahre. Die persischsprachigen Programme der BBC und amerikanischer Sender sowie einheimische Anstalten erreichen inzwischen den Großteil des Landes. In vielen Städten kleben Plakate in Schaufenstern, an Laternenpfählen und Hauswänden. „Die Wahl heute – Sicherheit für morgen“, wirbt Karsai als „Kandidat der nationalen Einheit“. „Stimmt für das Buch!“, ruft der Islamist Hafis Mansur auf und meint den Koran. „Hoffnung und Leben“, lautet der Slogan der einzigen weiblichen Bewerberin, Massuda Dschalal.

Von einer Kampagne Karsais ist sonst nicht viel zu sehen. Seitdem vor einem Wahlkampfauftritt auf ihn geschossen wurde, ist er in der Öffentlichkeit kaum noch aufgetreten. Erst gestern entging sein Vizepräsidentschaftskandidat Ahmed Sia Massud nur knapp einem Bombenanschlag in Faisabad.

Karsais Wahlkampf läuft über das Radio. In zweiminütigen Radiospots teilt er den „Landsleuten, die bisher noch kein Bild von mir gesehen haben“, mit, sein Foto sei das zweite von oben auf der Liste und er der Mann „mit der Karakulmütze“. Karsai geht offenbar davon aus, dass er den Sieg schon in der Tasche hat. Das zeigt auch seine Absage der Debatte am Montag. Und viele Afghanen teilen diese Auffassung. „Sicher, Karsai hat viele Schwächen. Die Warlords sind nicht entwaffnet, und der Wiederaufbau geht zu langsam voran. Aber er hat kein Blut an den Händen“, sagt Abdul Bassir, ein Lehrer aus Zentral-Afghanistan. „Und ihn unterstützt die internationale Gemeinschaft.“

Damit sind vor allem die USA gemeint. Botschafter Zalmay Khalilzad, selbst geborener Afghane und Vertrauter des US-Präsidenten George Bush, tourt mit Karsai durch die Provinzen und eröffnet neue Straßen. Karsais Gegner spielen dessen USA-Nähe gegen ihn aus. Herausforderer Kanuni sprach von einem „Führer, der uns vom Ausland aufgezwungen wird“.

Während auch demokratisch gesinnte Afghanen diese Kritik teilen, sind die anderen Kandidaten für sie keine Alternative. Viele haben im Bürgerkrieg Blut vergossen. Kanuni war in dieser Zeit vier Jahre lang Verteidigungsminister und damit politisch verantwortlich für die endgültige Zerstörung Kabuls. Später sorgte er maßgeblich dafür, dass bisher erst 13.000 von etwa 50.000 Miliz-Kämpfern entwaffnet wurden.

Diese Milizen könnten ausschlaggebend dafür sein, für wen die verunsicherten Menschen stimmen. In einem Bezirk im Nordosten, nicht weit vom Bundeswehreinsatzort Kundus, drohte der örtliche Kommandeur den Bauern: Man könne über Kameras in den Wahlkabinen sehen, wer wie abstimmt.

In einigen Provinzen führen auch Taliban und andere Regierungsgegner einen Antiwahlkampf. Taliban-Sprecher bezeichneten alle 18 Kandidaten als legitime Ziele für Anschläge. Seit Mai wurden zwölf Wahlhelfer getötet. Sowohl die Europäische Union als auch die OSZE entsenden aus Sicherheitsgründen keine regulären Beobachter.

Nach einer ersten Umfrage des Institute for War and Peace Reporting aus dem vergangenen Monat unter 3.000 Afghanen in 21 der 34 Provinzen wollen trotz aller Widrigkeiten 85 Prozent der Berechtigten zur Wahl gehen. Dagegen wollen 12 Prozent nicht abstimmen, nur drei Prozent sind noch unentschlossen. Auch das ist ein Zeichen für das hohe Interesse der Afghanen an der ersten freien Abstimmung seit Jahrzehnten. „In all meinen 71 Jahren habe ich keine Wahl gesehen“, sagt Tadsch Mohammed aus Herat. „Jetzt, am Ende meines Lebens, will ich den Präsidenten bestimmen.“