Eine geografische Fiktion

Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass Europa eine dauerhafte Grenze hat.Es ist ein dynamischer, offener Raum, der immer wieder neu definiert werden muss

Der Römische Vertrag der EWG definiert nicht, welchen Staat man als europäisch bezeichnen kann

„Die EU darf und soll sich nicht über die geografischen Grenzen Europas hinaus ausdehnen. Die Türkei darf nicht Mitglied der EU werden. Europa endet nicht an der türkisch-irakischen Grenze.“ Davon ist der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber felsenfest überzeugt.

Doch nicht nur er argumentiert mit der Geografie, um die Frage nach den Grenzen Europas zu beantworten. Es ist eine populäre Meinung, dass man nur einen Schulatlas aufzuschlagen braucht, um festzustellen, wo Europa endet. Dieses veraltete Verständnis der Geografie vergiftet heute die öffentliche Diskussion über den EU-Beitritt der Türkei und morgen die Meinungsbildung hinsichtlich der Beitrittswünsche des ganzen Balkans, weiterer Nachfolgestaaten der UdSSR und übermorgen vielleicht Marokkos.

Laut Definition bezeichnet das lateinische Wort Kontinent schlicht ein zusammenhängendes, von Wasser umgebenes Festland. Folglich sind die Grenzen Europas eindeutig: im Westen der Atlantik, im Süden das Mittelmeer und im Norden die Arktis. Nur im Osten ist die Lage problematisch.

Nach gängiger Meinung begrenzt dort der Ural Europa. So war es aber nicht immer. Im Mittelalter galt vielmehr der Don als Ostgrenze Europas. Erst der russische Zar Peter der Große, der von 1689 bis 1725 regierte, änderte die Lage. Er wollte einen Platz für Russland in Europa. Die alte Grenze, die unweit von Moskau verlief, störte dabei. Dem Historiker und Geografen Wassily Tatichtschew kam deshalb vom Zar der Auftrag zu, eine neue Grenze für Europa zu (er)finden. Er schlug den Ural vor, denn mit dieser Grenze war es Russland fortan möglich, wie andere europäische Reiche als „zivilisiertes“ europäisches Land zu gelten, dessen Herz in Europa liegt und dessen „Kolonien“ in Asien angesiedelt sind.

Diese Grenzziehung war erfolgreich, denn sie fand den Weg in die Schulbücher der ganzen Welt und gilt bis heute. Auch im Südosten wurden die Grenze Europas in der Vergangenheit neu erfunden, denn jener Raum, der heute von den Staaten Armenien, Georgien und Aserbaidschan gebildet wird, wollte den Anschluss an das christliche Russland und damit an Europa. So verlegten die Geografen auch hier die Grenzen von den Höhen des Kaukasus hinab zu den osmanischen und persischen Grenzen.

Grenzen sind also keineswegs beständig. Wir können uns nicht einfach auf sie stützen. Und dies gilt nicht nur für die östliche Grenze Europas. Das Mittelmeer war in der Antike noch das mare nostrum, mithin also keine Grenze, sondern ein die Anrainer verbindender Raum.

Der Balkan verschwand bis in das 20. Jahrhundert hinein aus Europa in Folge der osmanischen Eroberung des 15. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert wie heute schieden sich die Geister an der Frage der Zugehörigkeit der Türken und Russen zu Europa. Der Duc de Sully (1560–1641) lehnte die Osmanen wegen ihres Glaubens und die Russen wegen ihrer kulturellen Minderwertigkeit ab. Der englische Quäker William Penn befürwortete hingegen eine neue europäische Staatenordnung unter Einschluss der Osmanen. Ihnen, wie auch den Russen, wollte er einen Platz in einer zu bildenden europäischen Volksvertretung zuerkennen.

Der europäische Weg kann heute oder morgen auch von weiteren Ländern übernommen werden

Ist also Europa nur eine kartografische Fiktion, wie der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck noch im 19. Jahrhundert meinte? Nein. Europa ist eine geografische Erfindung mit wechselhafter Geschichte. Dennoch existiert ein europäischer Raum. Das Problem liegt in seiner Definition.

Wenn man anhand einer Liste von geografischen und historischen Merkmalen den Raum Europa zu bestimmen versucht, unterlaufen beständig zwei Fehler. Erstens, eine Liste aufstellen bedeutet, dass schon ein bestimmter Raum im Kopf vorhanden ist. Die Auswahl der Kriterien dient also lediglich der Rechtfertigung der Grenzen.

Zweitens beweist das Festsetzen endgültiger Grenzen ein statisches Bild von Geografie und Geschichte. Den europäischen Raum angemessen zu beschreiben, gelingt nur dann, wenn man nicht einen räumlichen Status quo misst, sondern seine Aufmerksamkeit auf die Dynamik richtet. Wichtig ist also nicht, wie es immer war, sondern wie es gerade dabei ist zu werden.

Der französische Geograf Jacques Lévy bietet in seinem Essay „Europe. Une géographie“ eine geografisch-historische Genese Europas an. Das heißt, er sucht den Raum Europa bei seiner Entstehung. Damit zeigt er, dass sich gewisse Entwicklungen wie Autonomie der Zivilgesellschaft, Urbanität, Kapitalismus, Rechtsstaat, Demokratie ab einer gewissen Zeit – etwa dem Mittelalter – auf einem gewissen Gebiete – etwa im Westen Europas – vollzogen.

Dieser bestimmte Weg hätte vielleicht auch woanders sich entwickeln können, aber es ist eben hier passiert, auf diesem Erdteil, den man Europa nennt. Europa ist also in einer gewissen Zeit auf einem gewissen Raum entstanden. Ein historischer Weg wurde damit eingeschlagen, der eine bestimmte Zivilisation hervorgebracht hat. Dieser europäische Weg, der im Westen Europas entstand und sich in den Osten und Süden ausdehnte, kann heute oder morgen von weiteren Ländern übernommen werden. Es ist keine Auslassung, dass der Römische Vertrag der EWG festlegt, nur ein europäischer Staat könne Mitglied der EWG/EU werden, aber nicht definiert, wen man als solchen bezeichnen kann.

Wassily Tatichtschew erfand im Auftrag des Zaren eine neue Grenze für Europa: den Ural

Europa existiert als besonderer Raum, hat aber keine Grenzen. Es ist ein offener, ein dynamischer Raum. Nur wenn wir uns von der statischen „Geografie der Grenzen“ verabschieden und Dynamik in der Geschichte und Geografie erkennen, werden wir ehrlich und gelassen sagen können, wie viel Europa in der Türkei und, woanders in der Welt, zur Zeit vorhanden ist. Es ist richtig, dass die EU-Kommission Beitrittsverhandlungen zugestimmt hat und auch viel Zeit dafür vorgesehen wurde. Die Mitglieder der EU werden prüfen, ob die Türkei ausreichend europäisch ist, um dem europäischen Raum beizutreten, und die Türkei, ob sie wirklich bereit ist, ihrer Geschichte und Geografie einen neuen Dreh zu geben.

ODILE JOLYS
ARMIN OSMANOVIC