Lust auf Leben nach der eigenen Fasson

In Irakisch-Kurdistan ist eine neue Generation herangewachsen, die das Regime von Saddam kaum noch kennt. Sie ist in relativer Freiheit aufgewachsen. Ungeduldig verlangen sie nach mehr. Und Bagdad liegt auf einem anderen Planeten

AUS SULEIMANIJA INGA ROGG

Die Jeans ist so eng, der Ausschnitt des T-Shirts so tief, der dazu passende türkisfarbene Lidschatten und die Ohrringe so knallig, dass sich Khamgin Hamid in Bagdad so nie und nimmer auf die Straße wagen könnte. Dort wäre ihr Aufzug eine schiere Provokation. Pöbeleien wären das Mindeste, im schlimmsten Fall würden ihr radikale Islamisten auflauern, denen solche Freizügigkeit der Blasphemie gleichkommt. Doch hier in Suleimanija, der Stadt inmitten der Hügel- und Berglandschaft Kurdistans, muss sich die 23-Jährige über derlei Unbill kaum Sorgen machen. „Ich mache, was ich will“, sagt sie. „Wem es nicht passt, der soll eben wegschauen.“

Ohnehin ist die irakische Hauptstadt für Khamgin und ihre Freunde weit weg. Das Bagdad der 70er- und frühen 80er-Jahre mit seinen Bars und Vergnügungslokalen, an das sich ihre Eltern gerne erinnern, kennen sie nicht, und das Bagdad von heute ist für sie nicht mehr als die Stadt der Bomben und des Terrors. Ihr Zielpunkt heißt London, Berlin oder Stockholm. Von dort haben kurdische Exilanten Know-how und vor allem neue Ideen ins Land gebracht, und davon will Khamgin mehr. Seit kurzem hat sie einen Freund, den sie aber nur heimlich treffen kann. „Wir wollen wie ihr in Europa nach eigener Fasson glücklich werden“, sagt die 23-Jährige.

Bis dahin ist es wohl auch in Suleimanija noch ein weiter Weg, aber ein Stückchen Freiheit haben sich Khamgin und ihre Freunde schon erobert. Im Jugendzentrum der Stadt können sich die 15- bis 30-Jährigen unbewacht von den wachsamen Blicken der Alten treffen, flirten und schäkern.

Das Zentrum, das von „Kurdistan Save the Children“, der Hilfsorganisation der einflussreichen Politikerin und Medienunternehmerin Hero Ibrahim Ahmed, finanziert wird, gilt unter der Jugend der Stadt als erste Adresse. Besonders begehrt sind die Internetkurse, das Bodybuilding-Studio und natürlich die Cafeteria.

Zusammen mit dem Fotografen Zana Ali ist Khamgin für die Medienabteilung des Jugendzentrums zuständig. Ihr jüngstes Werk ist die Synchronisation eines amerikanischen Zeichentrickfilms. „Mist“ flucht Zana, als er den Film abspielen will. Die Benutzeroberfläche des Computers ist plötzlich arabisch statt englisch, wie in Kurdistan meist üblich. Zana beherrscht die Hauptsprache des Zweistromlandes wie viele jungen Kurden nur schlecht. „Weißt du, mit dem Arabischen haben wir es nicht so“, sagt er. „Das ist für uns die Sprache der Unterdrücker.“ Es sei die Sprache derjenigen, die für den Giftgasangriff auf das Städtchen Halabdscha und die Vernichtungsoperationen Anfal 1988, bei denen über 100.000 kurdische Zivilisten ermordet wurden, verantwortlich sind. Leicht verlegen, aber bestimmt, pflichten ihm Khamgin und die anderen bei.

Obwohl die heute um die 20-Jährigen damals noch Kleinkinder waren, haben sie die Zeit der großen Verfolgungen der Kurden nicht vergessen. Deshalb geben sie auch wenig auf die Reden der Politiker vom neuen Irak und der Brüderlichkeit zwischen Arabern und Kurden. Der Irak ist für sie ein fremdes Land, von dem sie sich innerlich längst verabschiedet haben. Ihr Land ist Kurdistan, in dem in den letzten zehn Jahren auch nicht alles zum Besten stand, aber in dem es seit gut einem halben Jahrzehnt aufwärts geht.

Lässig wie eine Boygroup die Bühne betreten vier Jungs den begrünten Innenhof des Jugendzentrums. Ein paar Minuten posieren sie vor dem Grün, dann verdrücken sie sich. Nachdenklich blickt ihnen Khamgin nach. Nein, ihr Freund sei nicht dabei gewesen, sagt sie. Energisch schüttelt sie den Kopf, so dass die türkisfarbenen Ohrringe wild zu hüpfen beginnen. „Hier könnte ich ihn eh nicht treffen. Zu viele Augen und Ohren.“

Das Paris des Irak nennen die Hauptstädter die kurdische Stadt im Norden. Je nach Tonfall kann das als Wohlwollen für die vielen kleinen oder größeren Freiheiten verstanden werden oder als Verachtung für das vermeintliche Sündenbabel.

Grell blinken in den frühen Abendstunden die Reklametafeln an der Straße des Friedens. Alkoholläden, die in anderen Landesteilen Ziel von Anschlägen sind, werben hier mit großen Bierschildern um Kundschaft. Junge Frauen in engen Röcken und Blusen, einige Wagemutige gar mit bauchfreien T-Shirt, und junge Männer in trendigen Hemden und Pomade im Haar drängen sich in den Take-aways, die gerade der letzte Schrei sind. Vor dem „Madonalds“, das gerne ein echtes McDonald’s wäre, hat eine Gruppe von Frauen in zwei schicken Wagen geparkt. Keck schauen sie den vorbeigehenden Männern nach. Gäbe es nicht auch noch die Männer in ihren Sherwals, den kurdischen Pluderhosen, die Frauen mit den züchtig gebundenen Kopftüchern und die Zigarettenverkäufer mit ihren fahrbaren Buden, könnte man leicht vergessen, dass dies ein Ort im Irak ist.

Aber bei aller Toleranz hat das Laisser-faire auch in Suleimanija seine Grenzen. Voreheliche Liebesbeziehungen oder gar Sex sind streng verpönt und nur heimlich möglich. Auch die exzessiven Drogenpartys, die inzwischen selbst in Teheran üblich sind, gibt es hier. Was Khamgin und ihre Freunde tun, sind so besehen kleine Provokationen. Garantiert ungestört kann sie sich mit ihrem Freund nur beim Chat im Internet treffen. Aber sie will mehr, und sie weiß auch wie. „Wir müssen unsere Eltern erziehen“, sagt sie und wieder hüpfen die Ohrringe. „Sie haben uns lange genug erzogen. Jetzt sind wir dran.“