KRUZIFIX-URTEIL IN ITALIEN: DA SCHÄUMT DER ABENDLANDVERTEIDIGER
: Eurochristen im Klassenzimmer

Verdutzt zeigte sich der Amtsrichter, der jetzt das Kreuz aus einer italienischen Schule verbannte: Mit solcher Empörung habe er nicht gerechnet. Doch vor dieser Überraschung hätte ihn womöglich die Lektüre deutscher Zeitungen bewahren können. Wir wissen schließlich nur zu gut, wie sehr Kruzifixe, Kopftücher oder auch das gemeinsame Gebet im kommunalen Kindergarten die Gemüter in Wallung bringen. Eine Wallung, die kaum in der Religiosität wurzeln kann: Die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland, eine deutliche Mehrheit aber auch in Italien hat die Religion schon lange aus ihrem Alltag verbannt, kommt prima aus ohne Kirchgang, Bibelspruch und Tischgebet. Und wünscht sich doch das eine oder andre religiöse Symbol im sonst ziemlich weltlichen Alltag, und sei es nur ein Kreuz dort, wo es eh schon hängt, an der Wand im Klassenzimmer zum Beispiel.

Dort fällt es den meisten nicht weiter auf – außer den wenigen, die sich dran stören, weil sie entweder zu andren Göttern beten oder finden, dass religiöser Kram nicht in staatliche Einrichtungen gehört. Doch die Nörgler werden belehrt: Es gehe nicht um ein Glaubensdiktat, sondern um die Identität des nun mal christlich gewachsenen Abendlands. Und deshalb, setzen die Abendlandverteidiger nach, gehöre die Berufung auf unsere christlichen Wurzeln auch in die europäische Verfassung.

Mit der Identitätsstiftung haben sie nur allzu Recht: Der Erregungsfaktor steigt im Verlauf von Kreuzdebatten in dem Maß, wie der Angriff von „außen“ kommt. Dann giften selbst Leute, die seit Jahren nicht gebeichtet haben, dass „wir“ uns nicht von irgendwelchen Mullahs den Wandschmuck für unsre Kleinen vorschreiben lassen. Für die Kirchen sind so immer wieder Siege garantiert, und wenn sie nur im allgemeinen Aufschrei angesichts abgehängter Kreuze bestehen. Dass sich das Christentum von der spirituellen zur historischen Größe, zum bloßen Traditionsgepäck Europas umdefiniert findet, entgeht ihnen dabei – und könnte das Kruzifix im Klassenzimmer glatt seinen Gegnern schmackhaft machen. MICHAEL BRAUN