Der Landverfilmer

Das Dorf Rietschen in der sächsischen Lausitz: eine Heimatgeschichte zwischen Kommärzbanck und Goldenem Reiter

Als Filmemacher bin ich visuell trainiert. Ich hatte eine Geschichte und war auf der Suche nach einem Dorf dafür. Tagelang sind wir übers Land gefahren. Als ich in der sächsischen Lausitz durch Rietschen kam, wusste ich sofort: Das ist es. Die erste Frage an meinen Pensionswirt war, ob es dort noch Bauern gäbe. Nach meiner Übersiedlung von Belgrad nach Deutschland 1990 war es mir nämlich mehrmals passiert, dass ich mit meinen Kindern in einem Dorf ohne Bauern landete – etwas, das wir aus Jugoslawien überhaupt nicht kannten.

In Rietschen erfuhr ich dann, dass es dort noch einige gäbe, sie seien aber alle schon sehr alt. Ein paar habe ich später auch kennen gelernt. Der eine war noch relativ jung – ein Wessi: der einzige in Rietschen. Er ist jetzt 40 und hat das Land nach der Wende geerbt. Er wollte es nicht verkaufen und ist deswegen mit seiner Frau und drei Kindern nach Rietschen gezogen. Er hat etwa 30 Rinder und produziert Biofleisch. Seit der BSE-Krise läuft das aber nicht mehr gut, er kommt gerade noch so über die Runden – mit Hilfe von Subventionen.

Von meinem Pensionswirt bin ich zur Geburtstagsparty seiner alten Tante eingeladen worden – einer ehemaligen Bäuerin. Das Fest fand in einer Baracke statt, aus der man eine Kneipe gemacht hatte, die „Zum Goldenen Reiter“ hieß. Dieses bescheidene Ambiente, aber auch der ganze Ort hat mich so stark an Jugoslawien erinnert, dass ich laufend Déjà-vu-Erlebnisse hatte: Ich dachte, ich wäre im Dorf Lukicevo bei meinem Onkel.

Dieser Ort in der Wojwodina war bis 1945 ein deutsches Dorf gewesen, da haben die „Donauschwaben“ gewohnt. Meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits waren Bauern in Bosnien gewesen, zum Teil sogar wohlhabend, der eine besaß dort eine große Pflaumenplantage. Aber während des Krieges wurden ihre Höfe gleich mehrmals geplündert und niedergebrannt – und 1945 waren sie verarmt. Die Titoregierung hat sie daraufhin in die leeren deutschen Höfe in der Wojwodina umgesiedelt. Dort habe ich einen Teil meiner Kindheit und später die Ferien verbracht. Im Haus gab es noch ein deutsches Sofa und Betten. Als Kind waren diese verschwundenen Deutschen für mich eine fremde Welt. Sie begegnete mir jetzt in Rietschen – als eine bekannte.

Ich saß unter den Bauern, die in dieser für mich inzwischen nicht mehr fremden Sprache redeten – und wurde ganz sentimental. Diese Leute waren so offen und freundlich. Die Frauen wuselten herum, die Kinder machten in einem Nebenzimmer Krach und die Männer spielten die ganze Zeit irgendwelche Kneipenspielchen und tranken dabei. Auch das kannte ich alles von meinen Großeltern. Dazu kamen – hier wie dort – die 40 Jahre Sozialismus. Ich verstand sie also, wenn ich so sagen darf.

Für mich wurde das 3.000-Seelen-Dorf Rietschen aber auch dadurch wichtig, dass es dort ein Kino gibt: ein richtiges Wunder. Dieses „Café-Kino“ machen zwei Männer: Herr Fechner und Herr Schulze – mit sehr viel Enthusiasmus. Man darf dort während der Vorführung essen, trinken und rauchen. Ganz Rietschen hat sich dort „Good bye Lenin“ angekuckt. Auch Leute, von denen Herr Fechner dachte, sie wären längst gestorben. Seine 84-jährige Mutter verkauft die Karten.

Dann gibt es in dem Ort auch noch einen Jugendclub, der heißt „Kommärzbanck“. Der Pfarrer und der Bürgermeister haben Geld gegeben für den Ausbau eines LPG-Gebäudes, das die Jugendlichen jetzt selbst verwalten. Punk- und andere Musikgruppen kommen von überall her dorthin. In Rietschen gibt es keine Neonazis. Es hat noch immer einen Bahnanschluss. Und dann findet dort ganz in der Nähe, bei Daubitz, in jedem Sommer ein großes Country-Festival statt, zu dem sich Leute aus dem ganzen Osten einfinden.

Etwas aber gibt es in Rietschen, das ich aus der Wojwodina nicht kannte: all die Dorffeste. Karneval, Fischerfest, Schützenfest, Walpurgisnacht, Umzüge, Erntedankfest – ständig sind sie am Festevorbereiten, das ganze Jahr wird so gegliedert: sehr exotisch. ZORAN SOLOMUN