Wieder national statt global

2004 war für die Globalisierungskritiker das Jahr der Renationalisierung. Heute beginnt 3. Europäisches Sozialforum. Austritte bei Attac, Unmut über Hartz-Proteste

BERLIN taz ■ An jenem regnerischen Dezembertag hatten nicht mal die 50.000 Demonstranten erwartet, dass sie mit ihrem Protest den Abbruch der WTO-Tagung 1999 erzwingen würden. Dazu kam es aber. Das „Volk von Seattle“ war geboren.

Fünf Jahre später trifft sich beim Europäischen Sozialforum (ESF) ab heute in London erneut jenes bunte Patchwork aus Umweltbewegten, Gewerkschaftern, Anarchisten und Christen, um Strategien gegen den weltweiten Neoliberalismus auszutüfteln. 20.000 Teilnehmer werden auf diesem jahrmarktähnlichen Get-Together der Globalisierungskritiker erwartet. Und doch ist die Stimmung heute eine andere. War in Seattle, Prag und Genua der globale Gedanke zentral, entwickelte sich 2004 für die Globalisierungskritiker zum Jahr der Renationalisierung. Angesichts von Arbeitsmarktreformen und anderen Sozialkürzungen in fast allen Industrieländern gab es bei den meisten Aktivisten keinen Platz mehr für Entschuldungskampagnen, Tobin-Steuer oder Biopatenten in Indien.

Nicht anders sieht es aus bei den rund 15.000 Globlisierungskritikern von Attac-Deutschland: Attac stellte sich an die Spitze der Demos, als die ersten Bomben auf Bagdad fielen, sie geben ihren Senf dazu, wenn die Steuersätze gesenkt werden, und sind mit Protesten dabei, wenn in Frankfurt die U-Bahn verleast wird. Spätestens aber seit der Beteiligung an den Protesten gegen Hartz IV mehren sich kritische Stimmen. Das Profil von Attac würde verwischen, lautet der Vorwurf. Erstmals steigen nicht nur die Eintritte, sondern auch die Austritte in nennenswertem Umfang. „Dritte-Welt-Aktivisten, die wegen der internationalistischen Ausrichtung eingetreten waren, sind enttäuscht, dass sich der Akzent immer stärker auf Themen im Inland verschoben hat“, räumt Phillip Hersel vom Attac-Koordinierungskreis ein. Die Teilnahme am Sozialprotest sei trotzdem kein Fehler, im Gegenteil: Bei vielen Menschen wachse das Bewusstsein, dass Sozialabbau eben nicht nur im nationalen Rahmen stattfindet, sondern die Eckpfeiler auf EU- und G-8-Ebene abgesteckt würden, sagt Hersel.

Die Renationalisierung war auch durchaus gewollt. Beim ESF vor einem Jahr in Paris hatten die Aktivisten vereinbart, den Protest 2004 verstärkt auf die Sozialkürzungen im eigenen Land zu lenken. In Deutschland ist das gelungen. Mehr als eine halbe Million Menschen waren an diesem Tag auf der Straße. Anders als abgesprochen, fehlte dem Protest aber ein wesentlicher Charakterzug: die Einbettung in den transnationalen Kontext. Die als europaweit angekündigten Aktionen am 3. April blieben auf einige wenige Länder beschränkt.

In London will die deutsche Sektion von Attac sich dafür einsetzen, genau diese Lücke zu füllen. Im Gepäck haben sie eine Resolution, die für März 2005 einen Aktionstag aller Europäer vorsieht. Anders als beim 3. April, zu dem zum dezentralen Protest aufgerufen wurde, setzt Attac auf eine zentrale Demo in Brüssel. Anderen globalisierungskritischen Initiativen geht die Forderung nach nur einem zentralen Ereignis nicht weit genug. Sie schielen hoffnungsvoll auf Schottland. Dort soll im Sommer der nächste G-8-Gipfel stattfinden. Sie finden: Die Zeit ist reif für ein neues Seattle. FELIX LEE