Linker Tsunami erreicht Hannover

Wer hätte nicht gern die freie Wahl „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden?“ (Marx, Engels, „Deutsche Ideologie“). Man darf annehmen, jedes vernunftbegabte Menschenwesen, außer Tierschützer und Kritiker selbstverständlich.

Letztere Berufsgruppe saß am Dienstag im Restaurant Leineschloss in Hannover. Eingeladen hatte Manfred Sohn, Fraktionsvorsitzender der Linken im Landtag. Mitgebracht hatte er die Ökonomie-Professorin Christa Luft, im vorletzten DDR-Kabinett Ministerin für Wirtschaft, und ein selbst verfasstes Büchlein, das mit obigem Zitat endet. Titel: „Hat das System einen Fehler oder ist es der Fehler? – Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise von links“.

Professorin Luft sprach, dass der Autor zum Thema „Substanzielles“ beizutragen habe. Das meiste, „Mindestlöhne“, „Erhöhung der Hartz IV-Sätze“, „Reichensteuer“ kannte man aber schon. Auch Sohns Generalbass, er möchte die Krise als Bedrohung nicht nur für den Finanzsektor, sondern für das große Ganze, für das Klima, die Welternährung, vor allem aber für unsere demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung verstanden wissen, ist nicht gerade der letzte Schrei. Allein die Sprachmacht des Autors vermag einen Leser in den Grundfesten zu erschüttern. „Wie ein Tsunami baut sich in diesen Tagen die größte Wirtschaftskrise seit über siebzig Jahren vor uns auf. Die Welle hat begonnen, die Unternehmen und Hütten dieses Landes zu bedrohen.“ Welch ein erschreckend windschiefes Bild, dachte man und goss resigniert Kaffee nach.

Es wurde aber doch noch interessant, weil das Gros der Medienvertreter am Ende weniger die Krise, als vielmehr die Linke samt Herrn Sohn in der Tsunami-Rolle sehen wollte. Entsprechend engagiert wurden die Kulis bewegt, als Frau Luft Sohns Lösungsansätze referierte. Es fielen Reizworte wie „linke Widerstandskultur“ und „außerparlamentarische Bewegungen“, die dafür zu sorgen hätten, dass die „Zirkulationssphäre des Geldes“ demokratisiert und nach ökologischen Gesichtspunkten „vergesellschaftet“ wird.

Nun regten sich im Auditorium erhebliche Zweifel an Sohns „demokratischer Gesinnung“, die der „durch Berufsverbot verhinderte Wirtschaftswissenschaftler“ aber keinesfalls auf sich sitzen lassen wollte. Nein, er plädiere entschieden für mehr statt weniger Demokratie und meinte nur, dass „die Krise weit über den Horizont der politisch Agierenden“ hinausgehe. Er hätte doch aber „die DDR gut gefunden“, wurde weiter insistiert, also halte er doch wohl das kapitalistische System für einen Fehler, was Sohn wiederum mit dem Hineis auf die Krise des Jahres 1929, das heißt mit dem Prinzip Hoffnung konterte. Danach sei auch kein Stein auf dem anderen geblieben. MICHAEL QUASTHOFF